das Kirchenjahr

Buß- und Bettag

Reue und Buße

Predigtbeispiele

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Zu den Perikopen

Predigtvorschläge zu Reihe I - Röm 2, 1-11

Liebe Gemeinde!

Vermutlich kennen Sie die Casting Shows, die seit Jahren das Abendprogramm der freien Fernsehsender füllen. Es gibt kaum einen Sender, der sich nicht irgendeinen Superstar aus tausenden Kandidatinnen und Kandidaten auswählt. Und was diese alles auf sich nehmen, um am Ende vielleicht tatsächlich für ein oder zwei Jahre im Rampenlicht zu stehen, ist unglaublich.
Die Urteilsverkündung wird mit Spannung erwartet – und die Regie setzt ja auch alle möglichen Mittel ein, um es wirklich spannend zu machen. So kann schnell mal eine halbe oder gar eine ganze Minute der Sendezeit durch atemlose Stille überbrückt werden. Aber es gibt ja auch sonst nicht viel zu sagen.
In Nahaufnahme sieht man, wie Kandidatinnen oder Kandidaten in Tränen ausbrechen, wenn das Urteil fällt. Manchmal sind es Tränen des Glücks, manchmal sind es Tränen der Enttäuschung. Immer aber ist die Kamera hautnah dabei.
Die Zuschauer fiebern mit, manche wünschen sich, dass der Kandidat durchfällt, andere wollen, dass er weiterkommt. Es macht Spaß, das mit zu erleben und auch Einfluss zu nehmen auf das Urteil. Die meisten sind jedenfalls auch emotional an diesem Prozess der Urteilsfindung beteiligt.
Es gäbe solche Sendungen wohl nicht, wenn es nicht auch Menschen gäbe, die sich das gerne anschauen und so ihre Zeit totschlagen. Die Einschaltquoten spielen eine große Rolle bei solchen Sendern, und so ist die Existenz solcher Sendungen ein Indiz dafür, was in unserer Gesellschaft gerade dran ist.
Man will dabei sein, wenn ein Urteil gefällt wird. Und so sind auch die Serien um Richter Hold oder Richterin Salesch nicht tot zu kriegen. Es ergeht folgendes Urteil...
Warum sind Menschen nur so begierig nach solchen Sendungen? Ein bisschen fiebert man mit, vielleicht identifiziert man sich auch mit dem Kandidaten, mit der Beklagten oder dem Kläger oder dem Richter bzw. der Richterin. Man fällt selbst sein Urteil, und will dieses Urteil dann bestätigt wissen.
Und so harrt man aus, sobald man begonnen hat, mit einer dieser Figuren, die ihre Sehnsüchte mutig zur Schau stellen, zu sympathisieren. Man wartet gespannt auf die nächste Folge und möchte auf keinen Fall auch nur eine Folge verpassen.
Meist gibt man per Telefonnummer seine Stimme ab, und entscheidet dann natürlich nicht nach Befähigung, sondern nach Sympathie. Man fällt sein eigenes Urteil und fühlt sich dabei wohl, auch wenn jeder Anruf 50 Cent kostet.
Es scheint in der Tat, dass wir das gerne tun: ein Urteil über andere Menschen fällen, sie zu bemessen und zu bewerten. Es gibt einem das Gefühl der Kontrolle, die besonders gut auszuüben ist, wenn man zu Hause im Fernsehsessel sitzt und dabei nicht selbst angegriffen werden kann.
Paulus macht uns darauf aufmerksam, dass es mit dem Urteilen nicht so einfach ist. Worin du den anderen richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest. Das scheint nicht ganz einleuchtend, denn bloß weil man über einen Dieb sein Urteil fällt, ist man doch nicht gleich selber ein Dieb.
Das meint Paulus aber auch nicht. Ihm geht es darum, dass wir in unserem Urteil nicht gerecht sind, weil wir nicht in der Lage sind, alle wichtigen Umstände zu erfassen. Und so wie der Dieb ungerecht gehandelt hat, so sind auch wir ungerecht – und damit auf der gleichen Stufe wie der Dieb. Und wenn wir uns anschicken, ein Urteil zu fällen, sollten wir immer an die Worte Jesu denken: wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.
Gott ist Richter, und es ist nicht recht, dass wir uns zu Richtern erheben. Und dennoch muss es sein. Wir können doch nicht dem Bösen freien Lauf lassen! Wir müssen doch etwas gegen das Böse tun!
Was in den Casting Shows noch relativ harmlos daherkommt, wurde in der Serie „Tatort Internet”, die vor ... Jahren auf RTL2 ausgestrahlt wurde und mutmaßliche Sexualtäter in eine Falle lockte, um sie dann nach ihren Motiven zu befragen und in dem Zusammenhang auch gleich zu verurteilen, schon höchst fragwürdig. Was erreicht man damit, wenn einzelne Personen auf diese Weise an den Pranger gestellt werden? Trotz aller Unkenntlichmachung im Fernsehen ist es ja doch nichts anderes. Rotten wir auf diese Weise vielleicht das Böse aus?
Sicher nicht. Schon immer ist es so gewesen, dass Zurschaustellung und Bestrafung nur sehr begrenzt dazu verhelfen, das Böse in seine Schranken zu weisen. Es bleibt.
Vielleicht gelingt es, den ein oder anderen auf einen guten Weg zu bringen, aber meist wird sich das Böse andere Wege suchen, um unbeschadet handeln zu können. So ist es in Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte gewesen – das werden wir auch heute mit den modernen Medien nicht ändern können.
Und so wird das Urteilen, das Verurteilen, das Aburteilen eigentlich zur Farce. Ja, noch mehr: es wird selbst zum Verbrechen. Denn es wird dabei den Menschen ihre Würde genommen, es gibt keinen Respekt mehr. Bei den Casting Shows sind die Kandidatinnen und Kandidaten noch selbst bereit, ihre Würde aufzugeben und sich der Respektlosigkeit auszusetzen. Das unterschreiben sie in dem Vertrag, der der Teilnahme an der Casting Show zugrunde liegt.
Bei „Tatort Internet” sieht das schon anders aus – da wird den Menschen ihre Würde genommen, ohne dass sie damit einverstanden sind – sie werden im wahrsten Sinne des Wortes an den Pranger gestellt.
Damit ist nicht gesagt, dass das, was diese Menschen tun, gut ist oder richtig. Auf gar keinen Fall! Aber die Frage ist, ob wir auf diese Weise mit unseren Mitmenschen umgehen dürfen. Nicht nur, dass wir ihnen die Würde nehmen – wir geben damit im Grunde allen Menschen das Recht, in gleicher Weise mit uns zu verfahren.
Das letzte Urteil spricht Gott, so sagt Paulus, und dieses Urteil wird ein gerechtes Urteil sein. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber es ist ein Urteil, das die Guten von den Bösen trennt. Es geht dabei offenbar nach den Werken, die ein Mensch getan hat, denn Gott wird „einem jeden geben...nach seinen Werken”.
Und da werden wir wohl alle stutzig. Hieß es nicht: allein aus Glauben, ohne Zutun der Werke? Können die Werke da überhaupt noch eine Rolle spielen?
Natürlich tun sie das. Die Tatsache, dass wir glauben, bedeutet ja noch lange nicht, dass wir in allem, was wir tun, das Richtige und Gute tun. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht (Röm 7, 18) – diese Worte des Paulus wenige Kapitel weiter beschreiben wohl ausreichend das Dilemma, in dem wir uns auch als Glaubende noch befinden.
Und also gibt es das Urteil, das ganz unserem heutigen Gottesbild zu widersprechen scheint: der liebe, der gute Gott, der alles vergibt, der jeden annimmt, wenn er nur glaubt, wird die Guten von den Bösen trennen, er wird sie nach ihren Taten be- und verurteilen. Es gibt einen Maßstab für alles Handeln. Doch eins ist wichtig: diesen Maßstab setzt Gott und nicht der Mensch.
Das kann beruhigen, denn immerhin können wir von Gott eine gerechte Behandlung erwarten. Er wird uns nicht vorführen wie bei den Castingshows, er wird uns nicht unsere Würde nehmen. Er wird uns ernst nehmen, er wird uns Respekt erweisen, ohne Unterschied. Jeder Mensch gilt vor Gott etwas, denn jeder Mensch ist sein geliebtes Kind. Alle Menschen sind also auch vor Gott gleich, es gibt kein Ansehen der Person.
Was wir aus dieser Kindschaft gemacht haben, darauf wird es am Ende ankommen.
In der Mitte unseres Predittextes steht der Satz: „Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Buße leitet?”
Der Satz bekommt je nach Betonung eine etwas andere Bedeutung. Ich bevorzuge es, die Güte Gottes als Wichtigstes dieses Satzes zu betonen, also: „Weißt du nicht, dass Gottes Güte dich zur Buße leitet?” Denn dem steht der Druck der Strafe gegenüber. Es könnte ja auch heißen: weißt du nicht, dass Gottes Gericht dich zur Buße leitet?
Es ist aber nicht die Angst vor dem Gericht, die uns leiten soll, das Gute zu suchen und zu tun, sondern die Güte Gottes, seine Gnade und Barmherzigkeit.
Und da ist er wieder, der liebende, der fürsorgliche Gott, der sich seiner Schöpfung zuwendet in seinem Sohn Jesus Christus und durch seinen Tod bereit ist, zu vergeben, was immer Böses geschehen ist. Wenn wir nur wissen, dass es seine Güte ist, die uns zur Buße leitet.
Wir brauchen vor Gott keine Angst zu haben. In seiner Allmacht ist er uns doch wohlgesonnen. Er ist unser Vater. Er entwürdigt uns nicht.
Aber er lässt sich auch nicht vereinnahmen für unsere Zwecke, weder für das Urteil über andere noch für irgendwelche anderen Dinge, die wir uns vornehmen. Und das ist es, worauf wir besonders achten sollen.
Es geht nie darum, dass wir unseren Willen durchsetzen und dabei womöglich noch „Gott mit uns” auf unsere Fahnen schreiben, sondern es geht darum, dass wir den Willen Gottes suchen und fortwährend das Gebet „Dein Wille geschehe” auf den Lippen haben.
Gottes Urteil ist ein gerechtes Urteil, auch wenn es uns nicht so erscheinen mag. Wir sehen unsere kleinen Fehler als Lapalien, über die man hinwegsehen kann. Gott wird sie vielleicht ganz anders gewichten im Vergleich zu dem, was ein Einbrecher oder gar ein Mörder getan hat.
Denn es geht um Buße, um Umkehr. Wer bereit ist, den neuen Weg zu gehen, der zu Gott hin führt, wird von ihm auch freigesprochen, ganz so wie der Schächer am Kreuz, dem Jesus in der Stunde seines Todes, gerade als er seine Schuld aufrichtig bekannte, zusagt, dass er mit ihm noch am selben Tag im Paradies sein wird.
Und darum sollen wir nicht urteilen – denn wir können das Herz nicht ansehen. Der Schächer am Kreuz war von Menschen zum Tode verurteilt worden – und Gott spricht ihn in derselben Stunde frei und gewährt ihm das Leben.

Gott allein weiß, was in einem Menschen vorgeht. Er sieht auch das Herz an. Und wenn wir auf seine Gnade und Güte vertrauen, dann gibt es in der Tat nichts, was wir fürchten müssten, auch nicht das Gericht Gottes.
Amen

Liedvorschläge zur Predigt:
Aus tiefer Not lasst uns zu Gott (EG 144)
Nimm von uns, Herr, du treuer Gott (EG 146)
Allein zu dir, Herr Jesu Christ (EG 232)
Herr, der du vormals hast dein Land (EG 283)
Aus tiefer Not schrei ich zu dir (EG 299)
Gott rufet noch (EG 392)


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Predigtvorschläge zu Reihe II - Jes 1, 10-17

Liebe Gemeinde!
Der Prophet Jesaja ist sichtlich erzürnt. „Ihr Herren von Sodom!” und „Du Volk von Gomorra!” - Sodom und Gomorra sind bis heute der Inbegriff abgrundtiefer Sünde, und das waren sie auch damals schon. Die Geschichte vom Untergang der beiden Städte war allen Menschen vertraut. Gott hatte die Städte mit Feuer und Schwefel vernichtet – denn noch nicht einmal mehr zehn Gerechte waren in ihnen aufzufinden.
Die damals von Jesaja Angesprochenen waren sich allerdings keiner Schuld bewusst: sie hatten alles nach Vorschrift gemacht: die Opfertiere hatten keinen Makel, die Opferzeremonien wurden alle dem vorgeschriebenen Ritus gemäß durchgeführt, die von Gott selbst vorgeschriebenen Feste wurden ordnungsgemäß eingehalten und fröhlich gefeiert – es gab wahrlich keinen Grund zur Beanstandung!
Und doch: Gott beanstandete sie. Nicht, weil sie nicht ordnungsgemäß verliefen, sondern weil trotz all der Bemühungen um ein richtiges Verhalten etwas fehlte, was im letzten Satz unseres Predigttextes klar benannt wird:
Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!

Was gelernt werden muss, ist zunächst einmal fremd. So wie kleine Kinder in einem mühsamen Prozess lernen, auf ihren Beinen zu stehen und zu gehen, so soll das Volk Israel lernen, Gutes zu tun und nach Recht zu trachten.
Ich kann mir vorstellen, dass Jesaja wegen solcher Vorwürfe sicher keinen guten Stand hatte. Denn mit seinen Worten impliziert er, dass nie jemand im Volk Gutes Gutes getan, den Waisen Recht geschaffen oder der Witwen Sache geführt hat. Das ist hart und eine sicher ungerechtfertigte Pauschalisierung.

Bloß gut, kann man nun sagen, dass wir ein ganz gutes Stück, d.h. etwa 2600 Jahre, von diesen Worten entfernt sind.
Bloß gut, dass Jesaja nicht uns meint, sondern das Volk Israel, das sich damals wie Sodom und Gomorra darstellte und in eklatanter Weise gegen die Ordnungen und Gebote Gottes verstieß.
Wir sind ja auch längst ab von den Opfern, die Gott so gar nicht mag, seit vielen Jahrhunderten werden keine Opfer mehr dargebracht. Und wir sind hilfsbereit, spenden regelmäßig, legen unser Dankopfer in den Klingelbeutel...
Moment! Dankopfer! Da klingelt doch etwas! Die will Gott doch bestimmt auch nicht mehr haben, oder? Dann können wir also auch getrost den Klingelbeutel an uns vorübergehen lassen. Jesaja ist da doch ganz hilfreich und macht uns das Leben ausgesprochen leicht und angenehm, könnte man meinen. Aber so ist es natürlich nicht gemeint.
Gewiss, wir sind nicht das Volk Israel von damals, das ist schon richtig. Aber im Grunde sind wir ihm sehr ähnlich. Denn wir bringen Gott unsere Dankopfer, z.B. in der Kollekte und im Klingelbeutel, und wir gehen ja regelmäßig in die Gottesdienste, und wir feiern die Feste – besonders Weihnachten!
[Der nachfolgende Absatz sollte den Gegebenheiten entsprechend angepasst werden!]
Gestern war ich dienstlich in Drübeck, und auf dem Rückweg kam ich an einem Haus vorbei, das rundum mit Lichterketten behangen und auf einer Fläche so groß wie das Gelände rund um den Kaiserdom seine Lichterketten ausspannte und eigentlich ein richtig schönes Lichterbild darstellte. Natürlich mit Rentier und Schneemann und Weihnachtsmann, alles in Licht dargestellt. Toll, dachte ich. Doch dann kamen mir andere Gedanken:
Es ist noch nicht mal Ewigkeitssonntag gewesen. Und warum eigentlich eine solche Festbeleuchtung? Das Bild erinnerte mich an eine Satire, in der davon erzählt wird, wie Nachbarn darum wetteifern, wer die beste und schönste Weihnachtsbeleuchtung am Haus hat. Am Ende bricht sogar das nahegelegene Atomkraftwerk zusammen, weil durch die Festbeleuchtung Unmengen Strom gesaugt werden. Nun, dort in der Nähe von Drübeck schien es keine Nachbarn zu geben, mit denen der Leuchter wetteifern konnte.
Ist das also unser Weihnachtsfest? Lichter überall, je kunstvoller arrangiert, desto besser und schöner?
Natürlich möchten wir es gerne schön haben, alles soll adrett aussehen, ob es nun Weihnachten ist oder Ostern, um nur die zwei herausragenden Feste zu nennen, die ja aber bei weitem nicht die einzigen sind.
Und so gewinnt das Äußerliche immer mehr an Bedeutung.
Genau das aber kritisiert der Prophet Jesaja. Obwohl alles nach Vorschrift geht, alles richtig und gut und schön ist, ist es doch falsch, denn es sind alles Äußerlichkeiten.
Und diese Äußerlichkeiten dürfen niemals das Entscheidende werden.
So gesehen merken wir schon, dass wir natürlich auch Angesprochene sind. Zwar werden die meisten zum Gottesdienst gehen, weil es ihnen ein inneres Bedürfnis ist, das von Herzen kommt. Aber was wird vom Gottesdienst erwartet? Dass er schön ist? Dass er einen anspricht? Positiv natürlich?
Oder will man auf Gott hören? Und ist man bereit, sich herausfordern zu lassen, oder – ich sage es mal so – sich gegen den Strich bürsten zu lassen?
Was erwarten wir von Gott, wenn wir ihm im Gottesdienst begegnen wollen? Dass er lieb ist? Dass er uns das Gefühl gibt, dass alles in Ordnung ist?
Nach Jesaja dürften wir genau dieses Gefühl nicht bekommen. Denn es mag zwar mit uns alles gut sein und schön, aber in der Welt da draußen sieht es ganz anders aus, und es ist erstaunlich, wie schnell wir wieder in das Fahrwasser der Welt geraten und uns davon mitziehen und treiben lassen.
Aber wir sind Kinder Gottes und haben darum mit der Welt nichts zu tun, außer, dass wir sie verändern. Denn wir haben einen Auftrag: Gott und unseren Nächsten zu lieben.
Wenn wir hinausgehen, dann sehen wir nicht uns und unsere Bedürfnisse, sondern unseren Nächsten und seine Bedürfnisse. Wir fragen, was wir tun können, um zu helfen, und schauen nicht weg, wenn jemandem Unrecht geschieht.
Und das gilt nicht nur für die Menschen in unserer unmittelbaren Nähe, sondern natürlich auch für die Menschen in der ganzen Welt. Denn während es uns gut geht und wir Nahrung im Überfluss haben, sterben täglich immer noch hunderte von Menschen an Hunger. Über 800 Millionen Menschen leiden Hunger. 162 Millionen Kinder, die in Entwicklungsländern leben, sind chronisch unterernährt, so die Analyse des World Food Programms.
Unzählige Kinder können nie eine Schule besuchen, weil ihre Familien die Arbeitskraft ihrer Kinder brauchen und sich meist den Schulbesuch auch nicht leisten können.
Rd. 2,5 Millionen Menschen leben in sklavenähnlichen Verhältnissen, sie sind leibeigene, d.h. abhängig von der Gunst anderer.
Die Liste könnte immer weiter geführt werden und zeigt uns nur: die Welt, in der wir leben, braucht uns. Sie braucht unseren Einsatz für die Menschen, die hungern und im Elend leben. Sie braucht unseren Widerstand gegen Unrecht, Ausbeutung und Gewalt. Sie braucht unsere Liebe.
Das ist es, worauf uns der Prophet durch das Wort des Herrn hinweist. Das ist die Aufgabe des Volkes Gottes, zu dem wir durch Jesus Christus hinzugezählt sind.
Dass dazu auch das Gebet und das Opfer (womit ich jetzt den Klingelbeutel und die Kollekte und andere Spenden meine) gehören, ist eigentlich klar. Sie sind eine Form des Ausdrucks der Nächstenliebe. Sie dürfen nur nicht dazu dienen, uns ein ruhiges Gewissen zu machen und zu denken, wir hätten unsere Schuldigkeit schon getan.
Und so hören wir auch nicht auf, darum zu beten, dass sich diese Welt verändert, dass Gottes Liebe sichtbar werde an allen Enden und es niemanden mehr gibt, der sich einsam fühlt, weil da immer Menschen sind, die einem zur Seite stehen.

[Falls möglich, kann man ein ähnliches Bild oder das genannte für die Predigt heranziehen und den nachfolgenden Text entsprechend anpassen oder weglassen.]
Auf der Rückseite des Ablaufzettels sehen Sie einen Holzschnitt von Walter Habdank, der die Überschrift trägt: Kranken sich zuwenden. Man fühlt sich, vor allem durch den Esel im Hintergrund, erinnert an das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter.
Man kann regelrecht sehen, wie in dem Menschen, der sich um den Kranken kümmert, Freude aufsteigt, so als würde er für das, was er tut, belohnt. Zugleich ist aber offensichtlich, dass er keinen Lohn empfängt, denn der Kranke ist nackt, er hat nichts, was er zurück geben könnte, außer der tiefen Ruhe, die aus seinen Zügen zu erkennen ist.
Ich lasse uns ein bisschen Zeit, das Bild zu betrachten und darüber nachzudenken. Hören Sie in die Stille hinein – vielleicht hören Sie des Herren Wort.
Stille...
Amen

oder

Liebe Gemeinde!
Es ist nicht viel übrig geblieben vom Buß- und Bettag. Vor eingen Jahrhunderten noch gab es ihn wöchentlich, im 18. Jahrhundert wurde dies allerdings drastisch eingeschränkt, und im 19. Jahrhundert wurde dann dieser Buß- und Bettag, wie wir ihn heute feiern, staatlicherseits verordnet. Das Volk sollte Buße tun – zwischen Volkstrauertag und Totensonntag, also wenn man sich seiner Endlichkeit und der Tatsache, dass man irgendwann für sein Handeln Rechenschaft ablegen muss, in besonderer Weise bewusst ist.
Es war gut überlegt, den Buß- und Bettag so zu platzieren, aber aus wirtschaftlichen Gründen konnte er dann doch nicht bleiben und wurde als staatlicher Feiertag im Jahre 1995 abgeschafft.
Nun halten nur noch die Kirchen daran fest, mit Ausnahme des Bundeslandes Sachsen, wo er auch heute noch staatlicher Feiertag ist.
Brauchen wir solch einen Tag überhaupt noch? Oder: Warum sollten wir Buße tun?
Die Welt des Propheten Jesaja, aus der wir vorhin in der Lesung gehört haben, ist uns jedenfalls schon etwas fremd. Niemand von uns bringt Tieropfer dar, und niemand hat auch ein Bedürfnis, das zu tun.
Aber manches, was wir tun, ist ja nichts anderes als ein Opfer darzubringen, nur dass wir keine Tiere als Opfer haben,, sondern – in den meisten Fällen – Geld oder andere Güter. Manchmal ist es auch schlicht Zeit, die wir „opfern“ - indem wir etwa in den Gottesdienst gehen.
Wenn Gott durch Jesaja sagt, dass Gott solche Opfer und auch besondere Feste nicht mag, dann ist es nicht das Äußere, was ihn anwidert, sondern die Motivation, die dahinter steckt. Warum tun Menschen so etwas?
Spenden sie, um ihr Gewissen zu beruhigen, oder weil Ihnen die Not der Menschen zur eigenen Not geworden ist? Gehen sie zum Gottesdienst, weil sie sich sehen lassen wollen, oder weil das Verlangen nach geistlicher Erbauung und die Suche nach der Wahrheit, die in Gott ruht, dazu treibt? Feiern wir Feste, weil wir Gott damit danken wollen, oder weil wir es für wichtig halten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen?
Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unterdrückten, schafft den Waisen Recht, führt der Witwen Sache!
Das ist Buße, sich denen zuzuwenden und für sie da zu sein, die am Rand stehen. So kehren wir um, denn daran hat Gott gefallen.
So betrachtet, gibt es sicher noch genug Grund für einen Buß- und Bettag – und eigentlich gleich mehrere.
Auch wenn es nicht unbedingt eine individuelle Schuld ist, von der wir uns abwenden sollen, so werden wir doch alle mitschuldig an der Ausbeutung, die mit der Globalisierung einhergeht. Unzählige Menschen arbeiten für Hungerlöhne, damit wir ein komfortables Leben führen können. Davon gilt es, sich abzuwenden, Buße zu tun. Und dazu muss man noch nicht einmal der Kirche angehören, um diese Schuld und den Ruf zur Buße wahrzunehmen. Hier wäre der staatliche Feiertag durchaus begründet.
Bei Paulus sieht es im Römerbrief allerdings etwas anders aus: jeder, der einen anderen richtet, richtet damit zugleich auch sich selbst, so heißt es am Anfang des Textes, den wir gehört haben. Niemand ist besser als der andere – wir sind alle gleich vor dem Angesicht Gottes.
Zugleich werden aber auch hier unsere Taten gefragt. Nur kommen diese nicht zwangsläufig von uns selbst, sondern vielmehr durch die Güte Gottes, die in Jesus Christus offenbar wurde.
Gottes Liebe erwartet uns, sie ist schon da. Aber es ist keine klammernde Liebe, Gott zwingt uns nicht, sie anzunehmen. Wir haben alle Freiheit, diese Liebe anzunehmen – oder sie abzulehnen.
Die Konsequenz der Entscheidung malt uns Paulus dabei auch vor Augen.
Der ganze Text aber ist eine gefährliche Gratwanderung: auf der einen Seite wird unser gutes Tun durch Gottes Liebe selbst veranlasst, auf der anderen Seite aber gibt es auch die Konsequenz der Ablehnung eben dieser Liebe. Ist nun Gottes Liebe der erste Schritt, oder unsere gute Tat? Können wir durch böses Handeln tatsächlich die Liebe Gottes verwirken?
Paulus würde es wohl anders herum sagen: Wir lehnen die Liebe Gottes ab – und die Konsequenz ist Ungnade und Zorn und natürlich auch böse Taten. Aber ist das wirklich so? Können denn nicht auch die, die Gottes Liebe nicht annehmen, gute Taten tun? Wenn man Paulus konsequent folgt, dann scheint das wohl nicht möglich zu sein. Aber darüber zu urteilen, steht uns nicht zu. Das liegt in Gottes Hand.
Dies ist klar: Wir sind frei in unserer Entscheidung , die Liebe Gottes anzunehmen oder nicht. Doch wer sie annimmt, kann nichts anderes als gute Werke tun.
Angesichts der Tatsache, dass es viele Menschen gibt, die sich von der Liebe Gottes abgewandt haben, kann der Buß- und Bettag nicht überflüssig sein. Allerdings spricht er nun gerade diese Menschen nicht an. Und so geht die Überlegung nach dem Sinn des Buß- und Bettages noch ein bisschen weiter.
Im Gleichnis vom Feigenbaum, das Jesus erzählt, wird deutlich, dass es noch eine Chance gibt. Der Feigenbaum ist unergiebig, er bringt keine Frucht – sprich: es gibt keine guten Werke. Also soll er abgehauen werden. Der Weingärtner aber bittet für den Feigenbaum, dass er noch einmal eine Chance bekommt, seine Fähigkeiten, seine Möglichkeiten unter Beweis zu stellen.
Es wird noch nicht mal gesagt, dass der Besitzer dem Weingärtner dazu die Erlaubnis gibt, aber man kann es wohl annehmen. Wichtiger ist in diesem Gleichnis darum aber wohl nicht die Tatsache, dass dem Feigenbaum noch eine Chance gewährt wird, sondern die Tatsache, dass der Weingärtner für ihn bittet. Er tritt an seine Stelle und setzt sich für ihn ein.
Darin erkennen wir einerseits das Handeln Jesu an uns, der für uns eintritt, auch wenn wir es eigentlich gar nicht verdient hätten, weil wir eben keine Frucht bringen. Andererseits erkennen wir darin auch unsere eigene Pflicht, für die zu bitten, die keine Frucht bringen. Denn solange der Feigenbaum lebt, gibt es ja eine Möglichkeit, dass er doch noch Frucht hervor bringt.
Und darum begeht die christliche Kirche den Buß- und Bettag, weil er uns an unseren Auftrag erinnert: für die Menschheit zu beten, dass sie die Liebe Gottes erkennt und annimmt.
Unsere Fürbitte kann genauso etwas ändern wie die Verkündigung der Liebe Gottes, die ja nicht nur hier im Gotteshaus, sondern auch in den Begegnungen mit unseren Mitmenschen, stattfindet.
Buße ist immer etwas Gutes, etwas Erfreuliches. Denn sie meint, den Weg zu Gott, zu seiner Liebe, zu finden und zu gehen. Und es gibt wohl kaum etwas Schöneres, als in der Liebe Gottes geborgen zu sein.
Amen


Liedvorschläge zur Predigt:
Gott hat dir Christus, seinen Sohn (EG 145, 2-4.7)
Ach Gott und Herr (EG 233)
Ein reines Herz, Herr, schaff in mir (EG 389)
Gott rufet noch (EG 392)
Ein wahrer Glaube Gotts Zorn stillt (EG 413, 1.2.6-8)


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Predigtvorschläge zu Reihe M - Jona 3
Mt 12, 33-35(36-37)
Lk 13, 22-30
1. Joh 1, 5-2, 6

Zu Mt 12, 33-35(36-37)

Liebe Gemeinde!
Wann immer in der Bibel von Pharisäern die Rede ist, frage ich mich: gehöre ich zu ihnen? Dabei sind Pharisäer nicht gleich Pharisäer.
Auch wenn diese Bezeichnung bei uns schon lange zum Synonym für einen Heuchler geworden ist: es gab auch unter den Pharisäern solche, die sich von Jesu Botschaft angesprochen fühlten und deswegen ihr Leben aufs Spiel setzten, und es gab viele unter ihnen, die sich der Korruption und Machtgier widersetzten.
Der Umgang mit den Pharisäern ist in der Bibel darum schon etwas problematisch. Meist tauchen sie pauschalisiert als Menschengruppe auf, der, so wie in unserem Predigttext, Unaufrichtigkeit und sogar Bosheit unterstellt wird und auch werden kann. Und auch wenn ich schon von mir glaube, dass ich nichts Boshaftes in mir trage, so denke ich doch, dass ich mit den Pharisäern, wie sie so oft in der Bibel dargestellt werden, manches gemeinsam habe.
Darum fühle ich mich auch zunächst von solchen Worten wie denen unseres Predigttextes angesprochen. Aber beim zweiten Lesen sträubt sich mir dann doch alles. Kann Jesus wirklich so herzlos sein? Kann er wirklich ein so pauschales Urteil fällen? Was, wenn nur einer unter den Pharisäern, die seine Worte hörten, ihm wenigstens innerlich zustimmte? Hätte Jesus ihm damit nicht ungeheuer Unrecht getan?
Vielleicht kann dieser Eine ja auch den Worten Jesu zustimmen, trotz dieses pauschalen Urteils, und sich selbst nicht angesprochen fühlen. Aber das wäre nur ein schwacher Trost.
Mir geht dieser Text darum gegen den Strich. So einfach ist das doch nicht, kann es doch nicht sein. Man muss die Umstände würdigen, man muss berücksichtigen, in was für einer Situation Worte gesprochen werden.
Wenn man das Bild, das Jesus verwendet, weiter ausdehnen will, dann kann man durchaus auch mal eine faule Frucht an einem guten Baum finden. Deswegen wird noch lange nicht gleich der ganze Baum gefällt.
Aber von solchen Ausnahmefällen spricht Jesus nicht. Er meint, dass die Angesprochenen zutiefst Böse sind, von Geburt an. Und das ist ja schon eine tiefgreifende Aussage.
Aber wenn ich es genau bedenke: das könnte ich auch für mich bestätigen, zumindest wenn ich mich auf die Lehre von der Erbsünde einlasse. Der Sündenfall, das Aufbegehren gegen den Willen Gottes, ist den Menschen – und damit auch mir – demnach mit in die Wiege gelegt worden, es gehört zum Menschsein dazu.
Das bestätigt sich eigentlich durch die Geschichte der Menschheit hindurch. Immer haben sich Menschen absolut, losgelöst von jeglicher kontrollierenden Macht, betrachtet und häufig dann auch Gott für ihre eigenen Zwecke missbraucht. Man sieht es ja auch heute in unserer Gesellschaft, dass das Fragen nach Gott und nach seinem Willen immer weniger von Bedeutung ist, während die Überheblichkeit des Menschen stetig zunimmt.
Aber ist das nicht auch schon eine pauschalisierende Feststellung?

Gerade erst las ich von einer Studie, dass die Menschen heute nicht weniger, sondern anders glaubten.
Da heißt es, dass sich die Christen heute die Angst davor, nicht erlöst zu werden, abgewöhnt hätten. Der christliche Glaube ist ein Weichspülglaube, wenn man so will, an dem nichts weh tun kann. Gott ist ein liebender Gott, so durch und durch, dass es überhaupt keine Rolle spielt, wie der Mensch denkt, redet oder handelt, sondern einzig, dass er sich irgendwie auf Gott einlässt. Ein bisschen Glaube genügt – und damit wäre man ja auch schon wieder auf der Linie von Jesus, der gesagt hat, dass ein Glaube so klein wie ein Senfkorn schon ausreicht, um Berge zu versetzen. Also ist alles gut?
Hier haben wir einen Text vor uns, der es anders darstellt: wir alle müssen Rechenschaft geben am Tag des Gerichts von jedem nichtsnutzigen Wort, das wir geredet haben. Das sagt Jesus über alle Menschen, nicht nur über die Pharisäer.
Und das glaube ich. Was die Folge dieses Prozesses ist, können wir uns kaum vorstellen, weil wir es noch nicht erlebt haben. Ich kann mir eine Hölle jedenfalls so, wie sie immer dargestellt wird, nicht wirklich vorstellen. Ich kann mir aber vorstellen, dass ein Mensch, der selbstgerecht und überheblich ist, die Nähe und die Liebe Gottes nicht erfahren kann. Und das wird sich fortsetzen am Tag des Gerichts, weil ein solcher Mensch nicht die Güte Gottes sehen kann. Wer sich hinstellt und sagt: „Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen“, wird nicht gerechtfertigt werden können, sondern verdammt werden.
Von „Verdammung“ reden wir natürlich nicht gerne. Und das ist auch gut so. Denn nicht wir sind es, die Menschen verdammen können, sondern allein Gott. Verdammung heißt letztlich nichts anderes als Gottesferne. Niemandem wünschen wir es, und ich glaube schon, dass Gott jedem Menschen alle Möglichkeiten gibt, die Gottesferne zu überwinden. Aber nicht jeder wird diese Möglichkeiten wahrnehmen.
In jedem Fall obliegt es nicht uns, darüber eine Entscheidung zu fällen. Denn wir sind nicht in der Lage, in das Herz eines Menschen zu schauen – und darauf kommt es letztlich an, obwohl Jesus in unserem Predigttext gerade nicht von dem redet, was wir nicht sehen können, sondern von dem, was eigentlich alle wahrnehmen, nämlich die Worte eines Menschen.
Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden“, sagt Jesus, und wir müssen Rechenschaft geben von jedem nichtsnutzigen Wort, das wir geredet haben.
Es sind also schon Äußerlichkeiten, um die es hier geht, aber ich bin fest überzeugt, dass Gott mehr wahrnimmt als nur die Worte. Wir sollen uns darüber im Klaren sein, dass das, was wir sagen, immer auch Konsequenzen hat.
Das erleben wir ja z.B. dann, wenn ein Wort, das eigentlich gut oder wenigstens scherzhaft gemeint war, auf den Hörer oder die Hörerin verletzend wirkt. Es lag in dem Wort keine böse Absicht, aber es hat dennoch eine „böse“ Wirkung gehabt.
Oftmals können wir die Wirkung nicht wirklich nachvollziehen. Das heißt aber nicht, dass es uns egal sein kann, sondern im Gegenteil: die Möglichkeit, einen anderen Menschen, wenn auch ungewollt, verletzt zu haben, können wir nie ganz ausschließen. Auch darum können wir nie von uns sagen, wir hätten uns nie etwas zuschulden kommen lassen.
Wenn Jesus von einem „nichtsnutzigen“ Wort redet, dann meint er damit z.B. Versprechen, die nicht eingehalten werden. Es geht nicht um belangloses, leeres Geschwätz, sondern darum, dass wir Dinge sagen, zu denen wir nicht stehen – eben, dass wir heuchlerisch sind. Manche sind darin Meister geworden, ohne es wirklich wahrzunehmen.
Jesus will, dass wir aufrichtig sind in dem, was wir tun und sagen – und auch in dem, was wir denken. In dieser Aufforderung zur Aufrichtigkeit geht es nicht darum, ein neues Gesetz aufzurichten, sondern darum, die Gnade und Liebe Gottes für alle Menschen sichtbar zu machen.
Diese Aufgabe ist uns Menschen mit in die Wiege gelegt worden, gewissermaßen als Gegenstück zur Erbsünde. Wenn wir das tun, wenn wir aufrichtig sind in allem, was wir denken, sagen und tun, dann wird auch jetzt schon etwas sichtbar werden von dem, was uns verheißen ist: dem neuen Himmel und der neuen Erde, in der es keine Ungerechtigkeit, keinen Hass, keinen Neid und auch keinen Tod mehr gibt.
Amen

Zu Lk 13, 22-30

Liebe Gemeinde!
„Es sprach einer zu ihm“: auf diese Weise führt Lukas in die Worte Jesu ein. Einer – oder eine – da gibt es keine Festlegung; es ist kein Pharisäer, kein Zöllner, keiner seiner Jünger, kein Kranker. Oder anders herum: Die Frage kann sich jeder Mensch stellen, und ich glaube, dass sie auch jedem von uns schon gekommen ist:
Meinst du, dass nur wenige selig werden?
Diese Frage verrät allerdings so manches über die fragende Person, obwohl wir sonst gar nichts von ihr wissen.
Zunächst einmal klingt aus dieser Frage an, dass Jesus als Gelehrter, als Lehrer gefragt wird und nicht als der Sohn Gottes. Denn die Frage „meinst du“ erwartet nur eine Meinungsäußerung, es geht nicht darum, eine definitive, letztgültige Antwort zu bekommen, die man allerdings vom Gottessohn erwarten könnte.
Andererseits wird die fragende Person von Jesus sicherlich eine Antwort erwarten, die zumindest nahe an der Wahrheit liegt. Sonst würde sie sich nicht für die Meinung Jesu interessieren. Aber es bleibt ein Restzweifel, wenn man so will – es ist eben nur eine Meinung, die Meinung eines Lehrmeister, und am Ende könnte es ja doch ganz anders aussehen.
Das zweite, was an dieser Frage auffällt, ist die negative Ausrichtung der Farbe: meinst du, dass nur wenige selig werden? Die Frage hätte auch positiv lauten können: meinst du, dass viele selig werden?
Man nennt solche Fragen mitunter auch Suggestivfragen, weil sie die Antwort durch ihre Formulierung beeinflussen. Offenbar geht die fragende Person davon aus, dass nur wenige selig werden, und will nun von Jesus die Bestätigung dafür haben.
Je nach Tonfall könnte die Frage aber auch etwas anderes voraussetzen. Vielleicht hatte Jesus schon durchblicken lassen, dass nur wenige selig werden, und nun wird diese Meinung in Frage gestellt, etwa so: „Meinst du wirklich, dass nur wenige selig werden?“
Der Zusammenhang im Lukas-Evangelium ist da leider wenig erhellend, denn zuvor und danach wird die Frage nicht weiter thematisiert, und es ist auch nicht zu erkennen, dass sich Jesus zuvor schon in dieser Richtung geäußert hätte. Also wird die fragende Person wohl unter dem Eindruck stehen, dass nur wenige Menschen selig werden können.
Es ist eine Frage, die man sich heute vielleicht mehr als je stellt. Wir fragen uns, wie es unseren Kindern ergehen wird, unseren Freunden oder anderen nahestehenden Personen, die sich vielleicht vom Glauben abgewandt haben oder wenigstens keine Spuren von dem zeigen, was man selbst als wichtigen Bestandteil christlicher Lebensführung ansieht. Können solche Menschen noch selig werden? Genügt das, was da an Rest von Glauben übrig ist?
Manche würden vielleicht darauf antworten: Alle werden selig, wenn sie sich nur Gottes Willen unterordnen. Und dann wird erstmal Gottes Wille auf die 10 Gebote reduziert, bevor er den Bedürfnissen der Menschen entsprechend ausgelegt wird, damit man eine Vorstellung vom Willen Gottes bekommt.
Am Ende würde es dann wohl heißen: alle, die in der Kirche sind, werden selig werden – und dann vielleicht noch ein paar andere, die nicht zur Kirche gehören, oder noch mehr – jedenfalls alle, die getauft sind, unabhängig davon, ob sie einer Kirche angehören oder nicht, ob sie sich vom Glauben abgewandt haben oder nicht.
Billige Gnade, so könnte man das wohl nennen. Dietrich Bonhoeffer hat das so definiert: „Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten.“ (Nachfolge)
Jesu Antwort ist eine andere. Jesus antwortet erstmal gar nicht direkt auf die Frage, sondern er beginnt eine kurze Predigt. Und da fällt auf, dass aus dem Einen, der ihn fragte, plötzlich viele werden. „Er aber sprach zu ihnen:“ heißt es da, obwohl vorher nur eine Person zu ihm gesprochen hatte.
Es ist eine Frage, die alle betrifft, und darum ist seine Antwort auch an alle gerichtet.
Seine Antwort scheint im Ganzen ein ziemlich deutliches „Ja“ zu sein, und mehr noch: Jesus sieht die Möglichkeit, dass viele von denen, die ihm jetzt zuhören, dann eben doch nicht selig werden.
„Selig sein“, das bedeutet übrigens, wie man gegen Ende des Predigttextes hört, am Reich Gottes teil zu haben. Das bleibt offenbar vielen, wenn nicht sogar allen, die sich da gerade um Jesus geschart haben, verwehrt. Kann das sein?
Das ist das Beängstigende dieser Worte, dass alles, worum man sich bemüht hat, vielleicht vergeblich sein könnte. „Wir haben vor dir gegessen und getrunken, und auf unseren Straßen hast du gelehrt. Und er wird zu euch sagen: Ich kenne euch nicht; wo seid ihr her?“
Essen und trinken vor und mit dem Herrn – da denken wir sicher an das Abendmahl, und vielleicht ist es auch eine Anspielung darauf. Das ist doch die Form der Gemeinschaft, durch die wir das Heil Gottes erfahren. Hat das gar nichts zu bedeuten?
Es ist ja nur eine Andeutung, die eigentlich auf etwas anderes hinaus will: Es geht vor allem wohl darum, die Motivation in Frage zu stellen. Genügt es, einfach nur da zu sein, oder gehört noch mehr dazu, um selig werden zu können?
Jesus beginnt seine kurze Predigt mit der Aufforderung, darum zu ringen, durch die enge Pforte einzugehen. Es ist also offenbar gar nicht so leicht, da durch zu kommen, und darum ist ein Ringen notwendig, ein beständiges In-Sich-Gehen, um dann das Ziel in den Blick zu nehmen, nämlich: Gemeinschaft mit Gott zu haben.
Die Aufforderung zum Ringen bedeutet sicher nicht, in eine Art Wettkampf mit seinen Mitmenschen zu treten: wer ist der oder die frömmste, wer betet am häufigsten, wer liest täglich in der Bibel und wie lange, wer ist immer freundlich usw.
Es geht um das Ringen in sich selbst, es geht darum, die innere Stimme zu besiegen, der uns immer wieder von Gott wegführen und uns selbst in den Mittelpunkt stellen will. Es geht darum, dass wir unser Leben unter den Willen Gottes stellen, immer wieder danach fragen und nicht aufhören, ihn zum Maßstab unseres Lebens zu machen.
Wenn uns das gelingt, dann werden wir schon auch durch die enge Pforte passen, wenn wir nicht mehr das Gefühl haben, noch hier oder da etwas hinzufügen zu müssen, sondern wenn wir uns ganz auf das Geschenk einlassen, das Gott uns machen will durch seinen Sohn Jesus Christus.
Es geht letztlich um den Glauben, der ja in der Tat Berge versetzen kann; es geht darum, die liebevolle Zuwendung Gottes zu erfassen und fest zu halten, alle Tage.
Unser Predigttext macht das nicht wirklich deutlich – es klingt nur am Anfang an, wo Jesus uns auffordert, darum zu ringen, durch die enge Pforte hinein zu gehen. Aber das ist auch das Entscheidende, allein darum geht es.
Im Übrigen richtet Jesus Grenzen auf. Er grenzt ab, auch wenn nicht wirklich klar wird, nach welchen Kriterien dies geschieht. Die einen, d.h. diejenigen, die Jesus anspricht, werden nicht dabei sein können im Reich Gottes, und die anderen, die von Norden und Süden, von Osten und Westen herbeikommen, die werden dort sein: da klingt etwas von der Polemik gegen eine äußerliche Frömmelei an, die Jesus ja immer wieder einmal hat durchblicken lassen.
„Und siehe, es sind Letzte, die werden die Ersten sein, und sind Erste, die werden die Letzten sein.“
Hier wird mal nicht verallgemeinert, denn es heißt nicht: Die Letzten werden die Ersten sein und umgekehrt, sondern: einige von den Letzten werden die Ersten sein, und einige von den Ersten werden die Letzten sein.
Es ist also nicht zwangsläufig richtig, sich darum zu bemühen, möglichst am Ende der Schlange zu stehen, um dann den Einlass sicher zu haben. Es kommt, wie schon gesagt, vielmehr darauf an, was in uns vorgeht.
Martin Luther hat es in seiner „Summe christlichen Lebens“ so beschrieben:
Da muss nun das dritte Stück zukommen, nämlich der Glaube. Das ist das rechte Hauptstück und höchste Gebot, das alle anderen in sich einbegreift: dass wir wissen, wo die Liebe nicht vollkommen, das Herz nicht rein genug und das Gewissen nicht zufrieden ist, wo er (Gott) noch zu strafen findet, da die Welt nicht strafen kann, dass da der Glaube hinzukommen müsse, und (zwar) ein solcher Glaube, der nicht Heuchelei sei und vermengt mit dem Vertrauen auf eigene Heiligkeit. Denn wo der nicht ist, da wird das Herze nicht als vor Gott rein noch das Gewissen bestehen, wenn das scharfe Gericht und die Rechnung angehen wird. Denn hier ist niemand auf Erden, der solches sagen könnte: Ich weiß, dass ich alles getan habe und vor Gott nichts schuldig geblieben bin. Sondern so müssen auch die Allerheiligsten sagen: Ich habe wohl getan, was ich tun konnte, aber vielmal mehr gefehlt als ich selbst weiß. So steht unser eigenes Gewissen wider uns alle, das uns verklagt und unrein macht, ob wir gleich vor der Welt aufs allerbeste bestanden haben oder noch bestehen. Denn es muss richten und urteilen nach dem Wort, welches da sagt: Das solltest du getan oder nicht getan haben. Da kann es nicht vorüber, noch demselben antworten, es muss zum wenigsten im Zweifel stehen. Wenn es aber zweifelt, so ist es bereits unrein. Denn es bleibt vor Gott nicht bestehen, sondern zappelt und flieht vor ihm.
Darum muss uns hier das Hauptstück unserer Lehre zu Hilfe kommen, nämlich dass unser Herr Jesus Christus von dem Vater in die Welt gesandt, für uns gelitten hat und gestorben ist, und uns damit dem Vater versöhnt und (bei ihm) zu Gnaden gebracht hat und nun zur rechten Hand des Vaters sitzt und sich unser annimmt als unser Heiland, und als unser steter Mittler und Fürbitter das Beste für uns redet, als die nicht solche vollkommene Reinheit und gutes Gewissen haben, noch zuwege bringen können. So dürfen wir durch ihn vor Gott sagen: Wenn ich auch nicht rein bin, noch ein gutes Gewissen haben kann, so hänge ich an dem, der vollkommene Reinheit und gutes Gewissen hat und dieses für mich einsetzt, ja mir schenkt. Denn er ist es allein, von dem geschrieben steht: (wie 1. Petr. 2, 22 aus Jes. 53, 9 anführt): »Er hat keine Sünde getan, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden.«

An Christus hängen: das ist der Weg durch die enge Pforte. Nicht auf unseren eigenen Verdienst hoffen, denn da werden wir immer durchfallen, weil, wie Luther sagt, ich zwar alles so gut getan habe, wie ich konnte, aber dann doch viel öfter versagt habe, als ich selbst weiß. Denn so oft verletzen wir unsere Mitmenschen, ohne es selbst wahrzunehmen: da muss uns nur ein unbedachtes Wort rausrutschen, das wir vielleicht gar nicht mal ernst gemeint haben, aber es reißt eine tiefe Wunde, die wir gar nicht sehen, aber dem anderen doch große Schmerzen verursacht.
Auch wenn wir nicht tun, was uns eigentlich zu tun aufgegeben wäre – aus Trägheit, aber vielleicht auch nur, weil wir nicht den Mut aufbringen können – verletzen wir andere, denn wir lassen sie allein, ja, man könnte sagen, wir lassen sie im Stich.
Mir wird da immer ein Wort eines afrikanischen Bischofs im Gedächtnis bleiben, der es positiv gewendet hat: durch eure Hilfe erkennen wir, dass Gott uns nicht im Stich lässt. Darum ist es auch unsere Pflicht, dorthin zu schauen, wo wir gebraucht werden, und dann auch zu tun, was in unserer Macht steht.
Dennoch wird es nicht ausreichen, es wird immer wieder zum Versagen kommen, und wir wissen es noch nicht einmal.
Da führt der Weg einzig über Christus, der um unseretwillen gestorben ist, damit wir Frieden haben für unsere Seelen, damit wir selig werden.
Amen

Zu 1. Joh 1, 5-2, 6

Liebe Gemeinde!
Der Gerichtssaal ist voll, Zuschauer stehen in den Gängen, die Türen sind geöffnet, damit auch die, die draußen stehen, miterleben und mithören können, was im Gerichtssaal vor sich geht. Lautsprecher sind außen angebracht, so dass alle das Verfahren mitverfolgen können. Presse und Fernsehen sind vertreten. Der Prozess hatte viel Aufsehen erregt, denn alle wussten: von dem Ausgang dieses Prozesses hing auch ihre eigene Zukunft ab. Mehrere Wochen lang waren tagtäglich Zeugen vernommen und Beweismittel erbracht worden, und nun sollte am letzten Tag das Schlussplädoyer gehalten werden. Nachdem der Richter für Ruhe gesorgt hat, erhebt sich der Ankläger.
»Euer Ehren«, beginnt er, »der Mann, um den es hier geht, hat grausamste Verbrechen begangen. Wir haben dazu Zeugen befragt. Wir haben Beweismittel erbracht, die deutlich gemacht haben, dass diese Person wehrlose Menschen ohne Rücksicht auf geltendes Recht hingerichtet hat. Er hat gefoltert und gemordet, er hat Experimente durchgeführt an Menschen, die seiner Gewalt ausgeliefert waren. Er zog in den Krieg gegen Andersgläubige, weil er sich vor ihnen fürchtete. Er vertrieb Menschen aus ihrer Heimat, nur weil er ihr Hab und Gut wollte. Er ist verantwortlich für die Arbeitslosigkeit in unserem Land, weil er nur an seine eigene Sicherheit und an seinen eigenen Reichtum denkt. Er hat sich bestechen lassen und damit unserer Wirtschaft enormen Schaden zugefügt. Er lässt täglich tausende von Menschen hungers sterben, anstatt sie von seinem eigenen Überfluss zu sättigen. Er produziert Giftstoffe. Er lädt hochgiftigen Müll in der Natur ab und gefährdet damit seine Mitmenschen. Die Natur wird so nachhaltig ausgebeutet und zerstört, dass wir fürchten müssen, dass unsere Nachkommen mangels Rohstoffen nicht mehr lange überleben werden.
Der Angeklagte hat die grausamste Waffe erfunden, die Menschen erfinden können: die Atombombe. Und nicht nur hat er sie erfunden, er hat sie sogar eingesetzt gegen Millionen von Menschen und damit unsägliches Leid über sie und ihre Nachkommen gebracht. Er lässt zu, dass Kinder an Krankheiten sterben, die leicht erfolgreich behandelt werden könnten, indem er ihnen die einfachsten Medikamente verweigert. Er ist schuldig des millionenfachen Mordes! Und darum beantrage ich, dass er selbst erleide, was er anderen so oft und ohne Skrupel zugefügt hat: den Tod!«
Der Ankläger setzt sich. Nun erhebt sich der Verteidiger und beginnt zu sprechen: »Euer Ehren, ich gebe zu, die Reihe der Zeugen und der Beweismittel war sehr beeindruckend. Selbst ich konnte mich ihrem Eindruck nicht widersetzen. All die Verbrechen, die hier in diesem Gerichtssaal bezeugt wurden, sind aufs tiefste verabscheuungswürdig. Wer sie begangen hat, soll die schwerste Strafe erleiden, die man sich denken kann.
Nur: mein Mandant hat dies alles nicht getan. Er ist ein unbescholtener Bürger. Er hat eine Frau und zwei Kinder, er geht seiner geregelten Arbeit nach und ist bei seinen Mitmenschen, den Kollegen und Nachbarn, sehr beliebt. Nie hat er sich etwas zuschulden kommen lassen.
Dazu kommt sein Alter: er ist 40 Jahre alt. Was hier an Zeugenaussagen und Beweismitteln zusammengetragen wurde, bezieht sich auf Personen und Ereignisse, die mit meinem Mandanten in keiner Weise in Verbindung stehen können, denn viele der Ereignisse, die hier erörtert und meinem Mandaten zur Last gelegt wurden, geschahen lange vor seiner Geburt. Mein Mandant kann doch nicht verantwortlich gemacht werden für Verbrechen, die noch vor seiner Geburt geschehen sind!
Er hat ein Recht darauf, in Ruhe gelassen zu werden. Diese Verbrechen gehen ihn nichts an. Er hat damit nichts zu tun. Darum darf man ihn damit auch nicht behelligen. Zerrt die vor Gericht, die diese Verbrechen begangen haben, und lasst meinen Mandanten nach Hause gehen und in Frieden leben.
Ich beantrage die Aufhebung des Verfahrens.«
Nun setzte sich der Verteidiger. Der Richter schaute den Angeklagten an, dann sagte er zu ihm: »Wollen Sie noch etwas zu Ihrer Verteidigung hinzufügen?«
Der Angeklagte erhob sich. Er war in der Tat ein unauffälliger Mensch mit einer freundlichen, symphatischen Ausstrahlung. Und dann sagte er: »Euer Ehren, in diesem Verfahren wurde mir bewusst, wie grausam Menschen gegeneinander sein können. Es war mir unvorstellbar, dass Menschen zu solcher Brutalität fähig sind. Auch wenn ich selber diese Greueltaten nicht begangen habe, spüre ich doch, dass ich verantwortlich bin, nicht so sehr durch mein Handeln, sondern dadurch, dass ich nichts getan habe, dass ich geschwiegen habe, dass ich blind an dem Elend vorbeigegangen bin, dass ich nichts gesagt habe, wenn Greueltaten verherrlicht wurden. Ich erkenne, dass ich schuldig bin an diesen Verbrechen. Ich weiß, dass ich das Geschehene nicht wieder gut machen kann. Ich will mich aber einsetzen dafür, dass solches Unrecht nicht mehr geschieht. Ich will nicht mehr blind durch die Welt gehen, und mich denen nicht verweigern, die meine Hilfe brauchen. Aber die Schuld der Verbrechen, die begangen wurden, lastet schwer auf mir. Ich sehe keine andere Möglichkeit: Ich befehle mein Schicksal der Gnade des Gerichtes an.«
Der Richter erhob sich und verließ den Saal. Der Verteidiger verabschiedete sich von dem Angeklagten: »Wenn sie sich selbst schuldig sprechen bei einem so verrückten Prozess, dann kann ich Ihnen auch nicht mehr helfen. Das hat ja noch niemand getan, die Gnade des Gerichts angerufen. Damit werden sie wohl nicht viel Glück haben. Ich will nicht dabei sein, wenn das Urteil verkündigt wird.« Und er ging.
Nach einer Stunde kam der Richter wieder. Alle Menschen erhoben sich zur Verkündigung des Urteils. Der Richter sprach: »Im Namen Gottes ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird freigesprochen.« Ein Raunen ging durch die Menge. Das hatte wohl niemand erwartet. »Das Urteil wird wie folgt begründet: Der Angeklagte hat sich in seinen Schlussworten der Gnade dieses Gerichtes anbefohlen. Damit hat er in Anspruch genommen, was ihm zusteht: die Vergebung Gottes. Obgleich es erwiesen war, dass der Angeklagte Verantwortung trägt für die Verbrechen der Menschheit, indem er sie verschwiegen und auch mit seinem Schweigen zugelassen hat, hat das Gericht erkannt, dass die Reue des Angeklagten aufrichtig ist. Er hat sich nicht dem Gesetz unterworfen, sondern der Gnade Gottes, die jedem Menschen zuteil wird, der sich Gott zuwendet.
Mit diesem Urteil wird nicht ungeschehen gemacht, was geschehen ist. Das Gericht geht aber davon aus, dass der Angeklagte nun seine Freiheit dazu nutzen wird, in Zukunft ähnliche Verbrechen zu verhindern bzw. geschehenes Unrecht weiterzusagen, damit solche Dinge nicht wieder vorkommen.«
Der Richter verließ den Saal. Die Zuschauer wandten sich dem Ausgang zu und zerstreuten sich langsam. Der Freigesprochene aber blieb noch eine Weile sitzen. Als es still um ihn geworden war, holte er ein Buch aus seiner Tasche. Es war die Bibel. Zwischen den Seiten lag ein Lesezeichen. Er nahm es heraus und las noch einmal die Stelle aus dem 1. Brief des Johannes, die ihn während der vergangenen Tage immer wieder beschäftigt hatte:
Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis. Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.
An diesem Tag war es hell geworden im Leben des Freigesprochenen. Die Worte des Johannes waren Wirklichkeit für ihn geworden. Das Leben hatte ganz neu begonnen.
Amen
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