das Kirchenjahr

Die Zerstörung Jerusalems

10. August

Die Zerstörung Jerusalems

Predigtbeispiele

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Zu den Perikopen

Predigtvorschläge zu Reihe I - Lk 19,41-48

Anmerkung: Es findet sich in dieser Predigt öfter das Wort καιρος, gesprochen kairós (Betonung auf dem "o"). Die Bedeutung wird in der Predigt gegeben.

Liebe Gemeinde!
„Jesus weint über Jerusalem“ - so ist der erste Teil des Evangeliums dieses 10. Sonntags nach Trinitatis, des auch sogenannten Israelsonntags, in der Lutherbibel überschrieben. Es ist der Sonntag, an dem das Verhältnis der Christen zum jüdischen Volk bedacht werden soll. Es gab bis zur letzten Perikopenrevision im Jahr 2018 daneben auch den 10. August als Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Bis dahin lag der Fokus des 10. Sonntags nach Trinitatis aber auch mehr auf dem Gericht, das Gott über das Volk Israel verhängte, indem er es im Jahr 70 in alle Welt zerstreute. Vor rund 20 Jahren verlegte man den Schwerpunkt durch eine Neuauswahl der Perikopen mehr auf ein versöhnliches Verhältnis zwischen der christlichen Kirche und dem jüdischen Volk, und seit 2018 ist der 10. August kein eigener Gedenktag mehr, sondern man kann nun am 10. Sonntag nach Trinitatis das Verhältnis der Kirche zu dem Volk Israel oder die Zerstörung Jerusalems bedenken. Zum Gedenken der Zerstörung Jerusalems gehört auch das Evangelium, das wir gerade gehört haben.
Jesus scheint resigniert zu haben, man könnte fast meinen, dass er Jerusalem aufgegeben hat. Dass von den Menschen dort keine positive Reaktion auf seine Botschaft folgt, belastet ihn, ja, er weint deswegen. Dies wohl auch, weil er, in die Zukunft blickend, weiß, was die Menschen in Jerusalem erwartet.
Der Abschnitt dient übrigens vielen Exegeten zur Bestimmung der Zeit, in der das Lukas-Evangelium entstanden ist. Die Evangelisten haben in ihren Evangelien ja keine Zeitangaben gemacht, weswegen versucht wird, aus den Texten eine Datierung abzuleiten.
Da hier ganz deutlich die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 n. Christus beschrieben wird, meinen viele, dass Lukas sein Evangelium nach 70 verfasst haben müsse, denn erst im Jahr 70 wurde Jerusalem zerstört, und woher sollte Jesus – bzw. der Evangelist – davon wissen, wenn nicht dadurch, dass das Ereignis in der Vergangenheit liegt.
Daneben gibt es aber auch namhafte Exegeten, die von einer früheren Entstehung, etwa um das Jahr 60, ausgehen. Sie halten es immerhin für möglich, dass Jesus um die Zukunft Jerusalems weiß und darauf dann auch hinweist. Demnach wäre dieser Abschnitt nicht ein in die Vergangenheit projizierter Rückblick, sondern eine Schau in die Zukunft.
Letztlich muss man aber sagen, dass es unmöglich ist, das Entstehungsdatum auch nur eines der Evangelien mit Sicherheit zu bestimmen. Immer müssen für eine solche Datierung Hinweise im Text, die oft ganz unterschiedlich interpretiert werden können, herhalten. Nie kann man mit Gewissheit sagen, dass die eigene Annahme der Wahrheit entspricht.
Aber vielleicht ist es ja auch müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Lukas ist der einzige Evangelist, der uns so etwas wie eine Zeitangabe mitteilt. Er selbst ordnet zu Beginn sein Evangelium zeitlich so ein: „Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Wortes gewesen sind.“ (Lk 1,1-2)
Es ist also wohl schon einige Zeit verstrichen, es lässt sich aber nicht sicher sagen, wieviel Zeit verstrichen ist. Wichtig scheint mir die folgende Aussage des Evangelisten: „So habe auch ich's für gut gehalten, nachdem ich alles von Anfang an sorgfältig erkundet habe, es für dich, hochgeehrter Theophilus, in guter Ordnung aufzuschreiben, damit du den sicheren Grund der Lehre erfährst, in der du unterrichtet bist.“ (Lk 1,3-4)
Hier wird ein Anspruch der sorgfältigen Recherche erhoben, außerdem wird das Evangelium durch den Verfasser als zuverlässiger Bericht und Darstellung der christlichen Lehre eingeordnet – kurz gesagt: Lukas bemüht sich darum, ein wahrheitsgetreues Zeugnis abzugeben.
Dass dies nicht immer gelingen kann, versteht sich von selbst, denn kein Mensch ist vollkommen. Auch ist Lukas kein Augenzeuge. Er muss sich auf die Aussagen der Apostel und anderer, die Jesus leibhaftig begegnet sind, verlassen. Dass der Evangelist aber mit Ernst, Ehrfurcht und dem Bemühen um Wahrhaftigkeit an die Arbeit ging, steht außer Zweifel.
Von daher ist die Szene, die uns das heutige Evangelium in seinem ersten Teil beschreibt, besonders wertvoll, denn sie taucht in dieser Form nur bei Lukas auf.
Aus den Worten Jesu höre ich zunächst den Hinweis auf die Zeit, den καιρος. Der καιρος ist eine Zeit der Entscheidung. Diese Zeit ist nicht dauernd, sondern eher ein Zeitpunkt, eine Gelegenheit, in der man sich entscheiden muss, weil diese Gelegenheit später nicht mehr gegeben ist.
Man könnte es fast mit einem Sonderangebot vergleichen: Man bekommt das bestimmte Produkt für eine begrenzte Zeit günstiger als sonst. Man muss sich entscheiden, ob man es so günstig haben will oder nicht.
Aber hier ist es doch noch etwas anderes. Denn wenn im Neuen Testament vom καιρος die Rede ist, dann ist damit die Zeit zu einer ganz existenziellen Entscheidung gemeint – eine exklusive Zeit, die vorübergehen und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wiederkehren wird.
Jesus spricht die Stadt Jerusalem direkt an und meint damit natürlich nicht wirklich die Stadt, sondern ihre Bewohner. Sie haben nach seiner Aussage diese Zeit, diesen καιρος, nicht genutzt. Sie haben sich nicht entschieden, Jesu Worte anzunehmen und an ihn zu glauben. Sie haben sich vielmehr von ihm abgewandt und ihn schließlich sogar zum Tode verurteilt bzw. verurteilen lassen. Zwar liegt dies noch in der Zukunft, aber Jesus weiß darum natürlich schon vorher, denn schließlich ist er der Sohn Gottes.
Die Folge, so drückt Jesus es aus, ist die Zerstörung Jerusalems, der Tod aller oder der meisten Einwohner, Frauen und Kinder mit eingeschlossen. Im Bericht des Flavius Josephus wird von der Zerstörung Jerusalems geschrieben, dass die römischen Soldaten regelrecht durch das vergossene Blut wateten.
Vermutlich ist das übertrieben, aber es ist gut vorstellbar, dass es keinen Platz im zerstörten Jerusalem gab, auf dem nicht Blut vergossen worden war. Mehr als eine Million Menschen sollen ums Leben gekommen sein.
Es geht also um Leben und Tod, wenn der καιρος da ist. Das will uns Lukas durch diese Schilderung deutlich machen. Jeder Mensch bekommt solch einen καιρος. Jeder Mensch steht irgendwann vor solch einer existenziellen Entscheidung. Zwar muss der Tod nicht auf gewaltsame Weise kommen, aber als Christen wissen wir, dass dem ewigen Leben der ewige Tod gegenübersteht.
Aber wann ist dieser καιρος? Ich glaube, jeder Mensch wird es spüren, wenn es so weit ist. Nicht wir sind es, die diesen Zeitpunkt bestimmen oder herbeiführen – das ist Gott selbst. Aus meiner eigenen Biographie weiß ich, dass ich öfter Gelegenheit gehabt habe, mein Leben zu ändern, aber es scheint, dass keine dieser Gelegenheiten der καιρος war, also der Zeitpunkt, an dem es um mein Leben ging. Aber er kam, der καιρος, nachdem mein Lebensweg schon so manche Kurve und Höhen und Tiefen hinter sich hatte.
Immer mehr Menschen scheinen heute, so wie die Menschen in Jerusalem damals, gegenüber dem καιρος gleichgültig zu sein. Denn die Entscheidung für eine Nachfolge Jesu beinhaltet ja auch eine Veränderung des eigenen Lebens. Wer Jesus nachfolgt und seine Worte hört und danach handelt, hört auf, in Reichtum und Macht die Erfüllung seines Lebens zu suchen. Vielmehr erkennt man, dass beides vergänglich ist und das Leben seinen Wert aus der Liebe Gottes schöpft.
Wenn wir also auf den Wegen Jesu wandeln, wenn Besitz und Macht unbedeutend werden und wir uns für die Armen und Unterdrückten einsetzen, dürfen wir darauf vertrauen, dass wir die Gegenwart Gottes erleben und bei ihm ewig leben werden.
In den Worten Jesu wird aber noch etwas anderes deutlich: Gott lädt zwar ein, aber er zwingt niemanden zu seinem Glück. Wer die Liebe Gottes nicht annehmen will, kann ihrer auch nicht teilhaftig werden. Gott gewährt uns Menschen immer die Freiheit, selbst zu entscheiden, und er akzeptiert ein „Nein“ genauso wie ein „Ja“. Hier wird der Respekt erkennbar, mit dem Gott uns als seine Geschöpfe ernst nimmt.
Es scheint sich hier eine Parallele zu zeigen zur Erzählung von Abraham, der für die Rettung der Städte Sodom und Gomorra bittet, indem er darauf hinweist, dass es in der Stadt doch wenigstens ein paar Gerechte gäbe, die Gott unmöglich mit den anderen strafen könne. Wir wissen, dass am Ende die Gerechten, nämlich Lot und seine Familie, herausgeführt und so vor dem Untergang bewahrt werden.
Jesus spricht ein ähnlich pauschales Urteil über Jerusalem aus, aber diesmal ist niemand da, der für die wenigen Gerechten bittet. Das ist aber auch nicht nötig, denn Gott kennt die Seinen, und sie werden gerettet werden.
Für jeden Menschen gibt es einen καιρος, den Zeitpunkt, an dem man sich entscheiden muss. Ob es diesen καιρος noch ein weiteres mal geben wird, weiß Gott allein. Sicher ist, dass, wenn der καιρος da ist, vergeht er nicht unbemerkt. Jeder Mensch wird erkennen, dass von ihm eine Entscheidung gefordert ist.
In der gegebenen Situation, damals, als Jesus unter den Menschen wandelte, bestand der καιρος in Jesu leiblicher Gegenwart. Solange er unter den Menschen weilte, hatten sie die Möglichkeit zur Entscheidung. Jesus selbst ist gewissermaßen der καιρος. Es ist also nicht unbedingt nur ein kurzer Zeitpunkt, eine Minute, sondern es kann eine längere Zeitspanne sein, in der man sich entscheiden kann.
Für uns, die wir hier heute zum Gottesdienst versammelt sind, ist dieser καιρος schon gewesen, und wir haben uns für das Leben entschieden, ein Leben, das durch die Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus offenbarte, Bestand hat. Darum sind wir hier, um Gott zu danken und ihn für seine Güte und Gnade zu ehren und zu loben.
Nun geht das Evangelium noch etwas weiter: Es schließt sich direkt die Tempelreinigung an.
Hier muss man wohl wissen, dass es eigentlich üblich war, dass Geldwechsler und Tierhändler sich im Vorhof aufhielten, denn die Menschen brauchten Opfertiere, und römische Münzen, auf denen das Abbild des Kaisers eingeprägt war, durften nicht in den Opferstock gelangen. So konnte man bequem im Tempelvorhof römische Münzen in Schekel wechseln, und wer gekommen war, um ein Opfer darzubringen, konnte hier ein Opfertier erwerben.
Jesus sieht das Treiben der Händler und Geldwechsler. Er weiß, dass die Geldwechsler weniger zurückgeben, als sie empfangen haben, und dabei einen nicht geringen Profit machen. Er weiß, dass die Tierhändler die Ziegen und Tauben zu überhöhten Preisen anboten, weil die Menschen darauf angewiesen sind und darum fast jeden Preis zu zahlen bereit sind.
Und diese Habgier, die hier zu erkennen ist, bringt ihn dazu, die Händler und Geldwechsler auszutreiben. „Mein Haus soll ein Bethaus sein; ihr aber habt es zur Räuberhöhle gemacht.“ (Lk 19,46)
Es empört ihn, dass die Händler mit der Not auch der ärmsten Menschen noch Geschäfte machen wollen. Darum bezeichnet er sie indirekt als Räuber.
Nun ist das Evangelium dieses Tages damit aber noch nicht zu Ende. Denn Jesus lehrte täglich im Tempel – er tut dies, obwohl er kurz zuvor noch festgestellt hat, dass die Menschen in Jerusalem die Zeit, den καιρος, nicht erkannt und auch nicht ausgenutzt haben. Es ist also nicht so, dass er aufgibt, er resigniert nicht, sondern im Gegenteil: solange er kann, hört er nicht auf, die Liebe Gottes zu verkündigen.
Und hier sehe ich auch uns: dass wir nicht aufhören, von der Liebe Gottes, die wir selbst an uns erfahren haben, zu erzählen, auch dann nicht, wenn wir das Gefühl haben, dass es vergeblich ist.
Dass das nicht immer leicht fällt, ist klar; manchmal gelingt es uns auch nur durch die Art und Weise, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen. Aber auch das kann schon wirken, weit mehr, als wir uns das vorstellen können.
Wir säen den Samen aus, mehr können wir nicht tun. Aber auch nicht weniger. Dass wir oft die Früchte unserer Saat nicht sehen, mag uns betrüben. Es gibt viele Gründe, warum die Saat nicht unmittelbar sichtbar aufgeht.
Manchmal sind die Saatkörner auch unsere Gebete und unsere Tränen. Gott sieht es. Es gibt eine ganze Reihe von Erzählungen, in denen Jesus Menschen neues Leben schenkte, die zu ihm von anderen gebracht wurden. Sie selbst hatten vielleicht gar keine Hoffnung, sondern die anderen, die sie zu Jesus trugen. Wer weiß, ob das nicht auch für die Menschen gilt, für die wir Gott bitten.
Deinn ein solches „Zu-Jesus-Tragen“ kann unser Gebet sein. Mit unserem Gebet bringen wir die Menschen, die uns am Herzen liegen, zu Gott, damit er ihnen neues Leben schenken kann. Und warum sollte Gott unser Gebet nicht erhören? Denken wir an die Worte Jesu: „Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.“ Das ist der Grund unseres Gebetes: dass wir die Verheißung haben, dass unsere Gebete erhört werden.
So lasst uns auf die Gnade Gottes vertrauen, die er uns auf so vielfältige Weise immer neu offenbart, und nicht aufhören, davon zu reden und danach zu handeln.
Amen

Liedvorschläge zur Predigt:
Aus tiefer Not lasst uns zu Gott (EG 144)
Wach auf, wach auf, du deutsches Land (EG 145)
Nimm von uns, Herr, du treuer Gott (EG 146)
„So wahr ich lebe”, spricht dein Gott (EG 234)
Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ (EG 246)
Erhebet er sich, unser Gott (EG 281)
Aus tiefer Not schrei ich zu dir (EG 299)
Herzlich lieb hab ich dich, o Herr (EG 397)
In Gottes Namen fang ich an (EG 494)


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