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Zu den Perikopen
Predigtvorschläge zu Reihe I - Joh 19, 16-30
Liebe Gemeinde!
Jesus stirbt. Es ist kein schöner Tod, aber sicher nicht der grausamste,
den man sich vorstellen kann. Grausam ist vielmehr, dass wir Menschen dazu
fähig sind, anderen Menschen solches Leid zu zu fügen.
Immer wieder geschieht es von Tag zu Tag, unzählige Male. Menschen foltern
andere Menschen, fügen ihnen Schaden zu, um Geständnisse zu erpressen oder
einfach nur, weil sie es genießen, auf diese Weise ihre Macht beweisen zu
können.
Und jedes Mal, wenn so etwas geschieht, weint Gott. Er weint über jeden
Menschen, der nicht seiner Bestimmung entspricht: Und siehe, es war sehr
gut.
Aber es ist nicht gut geblieben. Die Tatsache, dass Gott uns so gut gemacht
hatte, so perfekt, führte ja zu dem Verlangen, all das tun zu können, was
Gott vorbehalten war. Wir wollen Schöpfer sein. Wir wollen über Leben und
Tod bestimmen - und tun es auch.
Gott weint - Er weint über die Folterknechte, die immer wieder neue Methoden
erfinden, um ihren Opfern noch mehr Qualen zufügen zu können.
Gott weint über die Wohlhabenden, die erst dann ruhig schlafen zu können
meinen, wenn sie endlich das tausendfache dessen, was sie zum Leben brauchen,
auf ihrem Konto gelagert, und wenn sie noch viel mehr in Besitztümern angelegt
haben. Denn sie versagen ihren Mitmenschen die Hilfe, die sie brauchen, und
nehmen so den Tod unzähliger Menschen in Kauf.
Gott weint über die Kriegsherren, die sich anmaßen, anderen Ländern ihren
eigenen Willen aufzuzwingen, und dabei unzähligen Menschen das Leben oder
die Grundlage zum Leben nehmen.
Gott weint über die Menschen, die ihre Mitmenschen verachten und die ihre
Eigenheiten ausnutzen, um sich über sie lustig und sie so lächerlich zu
machen.
Gott weint über die Gleichgültigen, die sich selbst genug sind und die Not
anderer Menschen nicht erkennen. Er weint, weil sie meinen, dass sie sowieso
nichts ändern können.
Gott weint über die Hochmütigen, die sich über andere Menschen erheben und
ihnen den Lebensraum nehmen. Er weint, weil sie die Rechte anderer Menschen
missachten, ja sie sogar als minderwertig ansehen und ihnen darum nichts
zugestehen.
Gott weint, und wir bemerken es nicht. Es geht an uns vorbei, wie man so
schön sagt. Denn die Welt um uns herum ist in Ordnung. Es ist eine schöne,
eine gerechte Welt - nur dass etwas schwer nach zu vollziehen ist, warum
z.B. ein Top-Fußballspieler mehrere Millionen Euro im Jahr Gehalt bezieht.
Aber das lässt sich ja vielleicht noch akzeptieren.
Nur, dass die Firma, die seinen Verein sponsort und damit erst dieses hohe
Gehalt möglich macht, in Indien oder in Pakistan oder in anderen Ländern
Kinder für einen Hungerlohn schuften lässt, damit die Produkte hier bei
uns extrem teuer als Markenartikel verkauft werden können - das sollte
auch uns zum Weinen bringen.
Jesus stirbt - er stirbt, weil es mit der Menschheit, weil es mit uns so
schlecht bestellt ist.
Das Kreuz ist über uns aufgerichtet - es erinnert uns an das, wozu wir
eigentlich geschaffen sind. Es erinnert uns, dass wir unseren Auftrag
verfehlt, dass wir versagt haben. Es gibt uns aber zugleich auch einen
Grund zur Hoffnung. Denn in diesem Kreuz wird ja die Liebe Gottes sichtbar.
Wie antworten wir darauf? Auf die gleiche Art und Weise, wie wir damals,
nach der Schöpfung reagierten?
Reagieren wir mit Hochmut, Anmaßung, Verachtung? Oder lassen wir uns von
dieser Liebe anstecken?
Überwältigt uns diese Liebe?
Ich möchte uns etwas Zeit geben, darüber nachzudenken. Ich werde einige
Denkanstöße in den Raum stellen - dann wird es still, damit wir selbst
nachdenken können, was die Liebe Gottes uns bedeutet.
Gott weint - er hat uns verloren.
- Stille -
Gott weint - er will uns nicht aufgeben.
- Stille -
Gott weint - er holt uns zurück.
- Stille -
Gottes Liebe - Ein neuer Weg liegt vor uns.
- Stille -
Amen
oder
Liebe Gemeinde!
Pilatus bekommt ein letztes Mal in der Passionsgeschichte eine besondere Rolle
zugewiesen, noch einmal ist er es, der Zeugnis gibt über das wahre Wesen Jesu,
wenn auch in einer nicht ganz eindeutigen Form: „Jesus, der König der Juden“ -
diese Worte lässt er auf das Kreuz setzen.
Für Johannes war es wichtig, dass dieses Bekenntnis aus dem Mund eines Heiden
kommt, der nicht zum jüdischen Volk gehörte, so wichtig, dass er den Heiden
seine Erkenntnis auch verteidigen lässt.
So sehr sich Pilatus um politische Korrektheit in der ganzen Angelegenheit bemüht
hatte, so ließ er sich jetzt doch nicht von den Oberen des jüdischen Volkes
beeinflussen: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“
Für ihn ist Jesus der König der Juden, weil er der König des Reiches Gottes ist –
des Gottes, den das jüdische Volk verehrt und anbetet. Und wenn Pilatus schon nicht
verhindern konnte, dass er Jesus zum Tode verurteilen musste, so wollte er doch
wenigstens seine Erkenntnis über diesen Menschen für alle sichtbar machen. Vielleicht
gab es ja doch den einen oder anderen, der durch diese Worte in sich gehen und erkennen
würde, dass hier Unrecht geschieht.
Aber Pilatus steht heute nicht mehr so deutlich im Mittelpunkt wie im vorangegangenen
Abschnitt, auch wenn die Worte, die da über Jesus am Kreuz angebracht wurden, in dieser
Erzählung des Johannesevangeliums deutlich mehr Platz in Anspruch nehmen als in den
anderen Evangelien.
Es ist schon eigenartig, dass trotz so vieler Übereinstimmungen die Evangelien gerade
bei der Erzählung von der Kreuzigung Jesu im Detail so viele Abweichungen aufweisen.
Die Eigenheiten des Johannes-Evangeliums helfen uns, das Wesentliche, das uns der
Evangelist vermitteln will, zu erkennen.
Zunächst einmal fällt mir das Fehlende auf. Da ist die Tatsache, dass Jesus von den
Zuschauenden überhaupt nicht verspottet wird. Es scheint eher eine angespannte Stimmung
zu herrschen, was man auch an der Reaktion der Hohenpriester auf die Überschrift erkennen
kann. Sie fürchteten die Reaktionen der Menschen, die das sahen.
Noch einmal wird deutlich, dass sie nicht verstanden – oder es nicht verstehen wollten –
wer Jesus in Wahrheit ist .
Ich stelle mir vor, so wie Johannes es auch beschreibt, dass viele es sahen. Und aus
irgendeinem Grunde sahen sie vielleicht auch das, was Pilatus schon erkannt hatte: dass
es hier, in der Person Jesus, um die Wahrheit geht. Und die Wahrheit lässt Menschen stumm
werden. Da gibt es keinen Spott und Hohn und auch keine Verachtung. Da gibt es höchstens
Scham und Betroffenheit.
Weiter fällt auf, dass es im Johannesevangelium keine Verfinsterung des Himmels zur
sechsten Stunde gibt, wie sie in den anderen Evangelien berichtet wird – das würde
auch schlecht gehen, denn im vorhergehenden Abschnitt hatten wir gelesen, dass das
Urteil erst zur sechsten Stunde gefällt wurde (Joh 19, 14). Warum Johannes hier von
den anderen Evangelisten abweicht, ist unklar – wir wissen nur, dass die sechste Stunde
den Mittag bezeichnet, also 12 Uhr.
Schließlich fehlt bei Johannes die Erzählung vom Vorhang im Tempel, von dem die anderen
Evangelisten übereinstimmend berichten, dass er zerriss. Für Johannes hat dieses Ereignis
offensichtlich keine so große Bedeutung, obgleich es ja symbolisch sichtbar machen soll,
dass nun der Zugang zu Gott für alle Menschen frei ist. Aber Für Johannes wird in Jesus
dieser Zugang frei gemacht – noch einmal erinnern wir uns an die Worte Jesu: „Ich bin
der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“.
Neben dem, was fehlt, sind da noch die Worte am Kreuz, deren es insgesamt sieben in
den Evangelien gibt. Hier fällt auf, dass sich die Evangelisten fast gar nicht
überschneiden. Sowohl Lukas als auch Johannes berichten von jeweils drei unterschiedlichen
Worten Jesu am Kreuz, während sich Markus und Matthäus auf nur ein Wort Jesu
beschränken: Eli, eli, lama asabtani – mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich
verlassen.
Die Worte, die Jesus nach dem Evangelium des Johannes am Kreuz sagt, unterscheiden sich
wesentlich von den Worten, die wir bei Lukas finden.
Es beginnt hierbei damit, dass Jesu Mutter und der Jünger, den Jesus lieb hatte, unter
dem Kreuz standen. Das ist hier einzigartig. Neben den beiden werden noch drei andere
Frauen genannt – offenbar gab es keinen Anlass für sie, sich vor den Römern zu fürchten.
Jesus wendet sich diesen beiden Personen, seiner Mutter Maria und seinem Lieblingsjünger,
zu. Es ist ein Zeichen der Fürsorge und Liebe, wenn er sie einander zuweist, indem er
sagt: „Siehe, das ist dein Sohn!“ und „Siehe, das ist deine Mutter!“. Diese Szene ist
aber dann doch noch tiefgründiger. Es kann doch nicht nur darum gehen, der Mutter einen
Sohn und dem Mann eine Mutter zu geben. Beide sind erwachsen, und damals kam es häufiger
vor, dass eine Mutter ihr Kind nach einer Krankheit oder einem Unfall zu Grabe tragen
musste.
Worum könnte es also gehen? Maria, die Mutter Jesu, wird an dieser Stelle gerne als
Symbol für die Kirche gesehen. Dann wären diese Worte Jesu der Auftrag an die Kirche,
sich um die Gläubigen zu kümmern, so wie sich eine Mutter um ihre Kinder kümmert. Und
den Gläubigen wären die Worte der Hinweis, sich an die Kirche zu halten, so wie sie
sich auch an ihre Mütter halten.
Auf jeden Fall dürften wir uns dann in der Gestalt dieses Lieblingsjüngers repräsentiert
sehen, und es ist sicher nicht verkehrt, sich hin und wieder in diese Rolle hineinzuversetzen.
Auffällig an dieser Stelle ist aber noch etwas anderes: Johannes benennt insgesamt vier
Frauen, die sich unter dem Kreuz befinden. Ihre namentliche Nennung ist für die frühe
Christenheit von Bedeutung. Diese Frauen spielten in der ersten Gemeinde sicher eine
besondere Rolle. Vor allem aber: sie blieben bei Jesus in der Stunde seines Todes,
während die Jünger sich längst versteckt hielten. Das Klischee von den starken Männern
und den schwachen Frauen hatte schon hier, vor zweitausend Jahren, keinen Halt mehr.
Ein weiteres Wort Jesu bringt ein ganz menschliches Bedürfnis zum Ausdruck: „Mich
dürstet“. Aber Johannes weist ausdrücklich darauf hin, dass Jesus auf diese Weise
die Schrift erfüllen will. Es ist also doch kein menschliches Bedürfnis. Jesus
behält über das Geschehen die volle Kontrolle und tut, was dem Willen Gottes
entspricht. Es fehlt ja auch das „Eli, eli, lama asabtani“, dieser verzweifelte
Ruf als Ausdruck der Gottverlassenheit.
Jesus weiß sich in diesen Stunden ganz in den Händen Gottes geborgen. Er ist,
wenn man so will, der Meister seines Sterbens, weil er weiß, dass er den Willen
seines himmlischen Vaters tut.
Und doch könnte dieses Wort „Mich dürstet“ ein Hinweis darauf sein, dass ihn trotz
aller Souveränität nach einem Zeichen der Liebe Gottes verlangt. „Meine Seele
dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott.“ (Ps 42, 3), so heißt es im 42.
Psalm – könnte Jesus nicht an diese Worte gedacht haben?
Es wird ihm auf einem Ysoprohr mit einem Schwamm Essig gereicht, den er dann auch
trinkt – damit wird klar, um welches Schriftwort es sich handelt, das hier zur
Erfüllung kommt: „Sie gaben mir … Essig zu trinken für meinen Durst“, so heißt
es im 69. Psalm (Ps 69, 22)
Auch hier wird wieder deutlich: Es geht alles nach einem göttlichen Plan, und
Jesus selbst behält den Überblick, er hat als Sohn Gottes diesen Plan vor sich
und folgt ihm Schritt für Schritt. Und so ist auch das letzte Wort Jesu am Kreuz
nicht verwunderlich: „Es ist vollbracht!“, spricht er mit seinem letzten Atemzug -
der Plan Gottes ist vollendet.
Jesus neigte sein Haupt und verschied. Der Tod ist nun in den Händen Gottes.
Er hat keine Gewalt mehr.
Amen
Liedvorschläge zur Predigt:
Christus, der uns selig macht (EG 77)
Herzliebster Jesu (EG 81)
Das Kreuz ist aufgerichtet (EG 94)
O Lamm Gottes, unschuldig (EG 190.1)
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Predigtvorschläge zu Reihe II - 2. Kor 5, (14b-18)19-21
Liebe Gemeinde!
Warum musste Jesus sterben?
Es gibt Antworten auf diese Frage, die offensichtlich sind:
Es waren machtbesessene Hohepriester und Pharisäer, die es wollten. Sie
ließen ihn ergreifen und führten ihn Pilatus vor, der ihn dann verurteilte.
Oder: Es lag an Pilatus, der zu sehr auf seinen politischen Vorteil bedacht
war und nicht die Gerechtigkeit im Blick behielt, als er Jesus zum Tod
verurteilte.
Oder: Es lag an der Menge, die »Kreuzige ihn!« schrie, als Pilatus die
entscheidende Frage stellte. Unter diesem Druck musste er nachgeben.
Oder: Es war Judas, der ihn an seine Gegner ausgeliefert hatte, vielleicht in
gutem Glauben, vielleicht aus Geldgier?
Alle diese Antworten sind richtig, aber sie sind auch allesamt oberflächlich.
Es gibt auch andere Antworten, die tiefer gehen, nicht ganz so offensichtlich
sind.
Eine Antwort könnte etwa lauten: Weil Jesus selbst es wollte. Schließlich hatte
er sich überhaupt nicht verteidigt, als er verhört wurde, er hatte vielmehr die
Mitglieder des Synhedrin noch provoziert.
Oder: weil Gott es so wollte. Der Tod Jesu gehört in seinen Heilsplan hinein,
ohne diesen Tod gäbe es kein Heil für die Menschheit.
Warum musste Jesus sterben?
Der Tod am Kreuz ist ein grausamer Tod, aber für Jesus war er gewiss nicht so
grausam wie für viele andere, die am Kreuz starben. Wir erinnern uns: den beiden
Verbrechern neben ihm wurden noch die Beine gebrochen, damit sie endlich sterben;
Jesus war zu dem Zeitpunkt aber schon tot, erlöst, wie wir oft sagen, wenn ein
Mensch stirbt, den seine Schmerzen zuvor noch geplagt hatten.
In der Art und Weise, wie Jesus stirbt, brauchen wir die Antwort also nicht zu
suchen.
Nein, sondern es hat in der Tat mit dem Willen Gottes zu tun und mit Jesu Bereitschaft,
in diesen Tod zu gehen. Ohne den Willen Gottes hätte es kein Urteil gegeben, keinen
politisch vorsichtigen Pilatus, keine machtbesessenen Hohepriester und Pharisäer,
keine blinde Menschenmenge, keinen Judas.
Gott wollte etwas tun, was für uns Menschen wichtig und notwendig ist. Doch warum
musste dazu Jesus sterben?
Die Theologen haben lange darüber nachgedacht und kamen schon früh zu einem Schluss -
nicht dem einzigen, aber doch dem, der die abendländische Kirche fast zwei jahrtausende
lang geprägt hat:
Jesus starb, weil Gott die Menschheit mit sich versöhnen musste. Gott sei, so heißt
es, ein Gott, der nur mit Opfern versöhnt werden kann. Und die Situation war die:
die Menschheit hatte sich so weit von Gott entfernt, dass alle Tieropfer der Welt
nicht für diese Versöhnung ausreichen konnten. Es hätte eigentlich ein Menschenopfer
sein müssen, nur konnte es dieses Menschenopfer nicht geben, denn kein Mensch war
rein von jeglicher Schuld. Jeder Mensch hatte Schuld auf sich geladen und hätte somit
durch seinen Tod nur für sich selbst gesühnt, aber nicht für die Sünden der Menschheit.
Also musste Gott selbst für dieses Menschenopfer sorgen, und er tat es, indem er
seinen eigenen Sohn, Jesus, in die Welt sandte, zu einem Menschen werden ließ, der
alle Schwächen der Menschen geerbt hatte.
Dieser Mensch, vollkommen, weil er Gottes Sohn war, ohne irgendeinen Makel, ohne
irgendwelche Schuld, der konnte dann geopfert werden, um endlich die Versöhnung mit
Gott zu bewirken, die kein neues Opfer mehr nötig machte.
Auch wenn ich diese letzte Konsequenz nachvollziehen kann, dass kein Opfer mehr nötig
ist, so habe ich doch mit den anderen Gedanken meine Schwierigkeiten. Brauchte Gott
wirklich ein Menschenopfer? War es wirklich unausweichlich? War er wirklich so versessen
darauf? Und wenn, wie kann dann ein Opfer, das Gott selbst bringt, die Menschheit mit
ihm versöhnen?
Es leuchtet mir nicht so recht ein. Aber im Augsburger Bekenntnis, auf dem unsere Kirche
beruht, wird davon gesprochen, dass Jesus das Sühneopfer gebracht hat, das nötig war, um
die Menschheit mit Gott zu versöhnen.
Dieser Gedanke scheint mir zu grausam. Es passt nicht zusammen mit der Botschaft von Jesus,
und es passt nicht zusammen mit der Botschaft der Propheten, die schon hunderte Jahre zuvor
begonnen hatten, den Opferkult zu kritisieren. War nicht Jesus das Tüpfelchen auf dem
»i« dieser Kritik? Hatte nicht gerade er alle Opfer kritisiert und verworfen? Denken wir
nur an die Reinigung des Tempels. Wie kann es dann sein, dass Gott Jesus, seinen Sohn,
»opfert«?
Letztlich werden wir diese Frage nicht endgültig beantworten können. Jedenfalls ist die
Theorie vom notwendigen Sühneopfer Jesus über viele Jahrhunderte hinweg Allgemeingut der
Kirche gewesen. In der römisch-katholischen Kirche wird auch heute noch das Abendmahl als
erneuter Vollzug dieses Opfers durch den Priester interpretiert - deswegen hat die katholische
Kirche auch Probleme, mit uns Protestanten das Abendmahl zu feiern, weil wir diese Auffassung
nicht teilen.
Brauchte Gott dieses Opfer? Musste er wirklich darauf beharren? Ist er so grausam?
Dass dies ein Problem nicht nur für uns heute ist, sondern auch schon damals war, als die
Christenheit gerade erst begonnen hatte, erkennen wir vielleicht daran, dass der Tod Jesu im
Neuen Testament auf verschiedene Weise gedeutet wird. Unser Predigtext bietet nun eine Deutung
an, die eigentlich gar nicht direkt davon redet, dass hier ein Sühneopfer vollzogen wurde. Ich
lese ihn noch einmal vor:
Wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben. Und er ist darum für alle
gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie
gestorben und auferstanden ist.
Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und auch wenn wir Christus gekannt
haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr. Darum: Ist jemand in Christus,
so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles von
Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die
Versöhnung predigt. Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete
ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind
wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi
Statt: Laßt euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur
Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Der einzige Satz, der in diesem Text an ein Sühneopfer erinnert, steht am Ende dieses Textes.
Aber ich möchte diesen Satz nicht als Begründung für ein Sühneopfer, das Jesus darstellt,
verstehen, sondern so:
Gott hatte Jesus, seinen Sohn, in die Welt gesandt und Mensch werden lassen, damit er uns
zeigt, wie wir gerecht und richtig, nach seinem Willen, leben können und sollen. Aber in
unseren Augen, d.h. in den Augen der Menschen damals, wurde er zum Sündenbock. Darum wurde
er verurteilt und gekreuzigt.
In dem Moment, wo Jesus stirbt, steht der erste Gläubige schon unter dem Kreuz: »Wahrlich,
dieser ist Gottes Sohn gewesen!« Der römische Hauptmann sagte dies nicht, weil er erkannte,
dass Jesus das Sühneopfer vollbracht hatte, das Gott brauchte, sondern weil er erkannte, dass
Jesus bis zum letzten Atemzug bereit war, denen zu vergeben, die ihn ohne Grund verurteilt
hatten und ans Kreuz schlagen ließen. Er erkannte, dass er selbst schuldig war an diesem Tod,
und nahm die Vergebung, die Gott ihm anbot, an. Er erkannte die Liebe Gottes und beschloss,
sie an zu nehmen. So wurde auch er gerecht.
Und so werden auch wir gerecht, indem wir das Unrecht, das wir tun, angesichts des Kreuzestodes
Jesu erkennen, und dankbar die Vergebung Gottes annehmen. Die Dankbarkeit wird dann in unserem
Handeln zum Ausdruck kommen.
Dies klingt auch schon zu Beginn des Predigttextes an, wo gesagt wird, dass wir hinfort nicht
für uns selbst leben sollen, sondern für Christus. Das bedeutet ja nichts anderes, als dass wir
nun selbst uns bemühen, das, was Christus uns verkündigt hat, in die Tat umzusetzen.
In diesem Sinn ist Jesu Tod ein Opfer: er hat sich geopfert, damit wir die Liebe Gottes
erkennen. Denn wenn er nicht am Kreuz gestorben wäre, dann wäre seine Botschaft so wie die
Botschaft vieler vor ihm verhallt.
Der Predigttext bietet in Bezug auf den Tod Jesu aber noch viel mehr: Denn durch den Tod
Christi kommt neues Leben zu uns. D.h., unser altes Leben ist nicht mehr.
Nun mag man fragen, wann sich dies ereignet hat. Wann hat das neue Leben begonnen, wann
das alte aufgehört?
Ich glaube, dass es sich dieser Neuanfang immer wieder aufs Neue ereignen muss. Das neue
Leben ist nicht automatisch da, auch wenn der Grundstein dazu in der Taufe gelegt ist.
Es braucht auch unser Engagement, unsere Bereitschaft, selbst etwas aufzugeben, nämlich
das Alte, das von Egoismus und Furcht gekennzeichnet ist.
Es geht schnell, dass wir wieder in den alten Trott verfallen. Wir müssen uns immer wieder
wach rütteln. Das Kreuz Jesu soll uns dazu helfen. Es soll uns daran erinnern, was Gott
zu tun bereit war, für uns. Er hat nicht mit aller Macht dreingeschlagen und zerstört,
was böse ist, sondern er hat uns offenbart, wie sehr er uns liebt: bis zum Tod. Es liegt
an uns, diese Liebe anzunehmen, an der wir auch heute wieder im Abendmahl teilhaben.
Jesus starb für uns, das bedeutet: er, der Sohn Gottes, war bereit, sich von uns töten zu
lassen, obwohl er der einzige war, der konsequent nach dem Willen Gottes gelebt hatte. Er
war nicht schuldig geworden. Seine Liebe und Versöhnungsbereitschaft hat uns Angst gemacht,
denn sie war entwaffnend, Das durfte nicht sein. Wie sollten wir uns verteidigen können?
Darum starb er. Für uns, um zu zeigen, wie sinnlos unsere Angst doch ist. Denn wir wissen,
als Sohn Gottes hätte er sich die Heerscharen der Engel herbeirufen können. Er tat es nicht.
Er nutzte seine Macht nicht aus. Er starb, damit wir ein neues Leben leben können, damit
wir das Ausmaß der Liebe Gottes erfassen und begreifen können.
So sind wir nun durch Gottes Liebe neue Kreaturen, neue Geschöpfe. Sind wir es wirklich?
Ein Gradmesser kann eigentlich nur sein, wenn die Menschen um uns herum es bemerken, dass
wir von der Liebe Gottes angesteckt sind, dass wir bereit sind, uns für Frieden und
Versöhnung einzusetzen. Dazu gebe Gott uns seine Kraft und seinen Segen.
Amen
oder
Liebe Gemeinde!
Es ist schon ein Kreuz mit dem Kreuz.
Viele Menschen haben ihre Probleme mit dem, was sich am Karfreitag ereignet. Das
ist nicht nur heute so. Schon in den ersten Jahrhunderten der Christenheit wurden
Christen verhöhnt, weil sie einen Gott anbeteten, der am Kreuz hing.
Man konnte es damals nicht verstehen, als man von einem Gott Macht und Stärke
erwartete, und man kann es heute nicht verstehen, da man von Gott meist gar
nichts erwartet.
Was soll das also – warum beten wir einen Menschen am Kreuz an?
Wie würden wir einem Menschen antworten, der uns diese Frage stellt?
Die Antwort fällt schwer, weil das Kreuz ja nicht die Endstation ist. Das Kreuz
symbolisiert Leiden, Schmerzen und Tod. Es zeigt das Endliche allen Lebens. Es
ist kaum verwunderlich, dass schon vor 1700 Jahren eine Zeichnung gemacht wurde,
auf der ein Mensch mit einem Eselskopf am Kreuz zu sehen ist und dazu die Worte:
„Alexamenos verehrt seinen Gott“.
Das Kreuz vermittelt nichts Erfreuliches. Es ist vielmehr ein Zeichen der Trauer.
Es kommt nicht von ungefähr, dass das Kreuz auch Symbol für den Tod ist. Der
Karfreitag ist kein Tag der Freude, sondern ein Tag der Trauer. Das merken wir
auch in diesem Gottesdienst, der sich ganz aller Festlichkeit entledigt.
Und dennoch ist das Symbol des Kreuzes das Symbol christlichen Glaubens geworden
und auch geblieben.
Man kann fragen, was wohl die Alternative sein könnte:
Ein Bild von Jesus? Als wir in Indien waren, fiel mir auf, wie schwer es ist,
sich ein Bild von Jesus zu machen: Immer und immer wieder sah man in den christlichen
Häusern das gleiche Bild, Jesus, ein langhaariger, bärtiger Europäer mit durchaus
sympathischen Gesichtszügen, in ein langes Gewand gekleidet, meist betend. Woher
wissen wir, dass er so ausgesehen hat? Diese Bilder sind Fiktion. Sie stellen
im Grunde nur das dar, was wir uns unter Jesus vorstellen.
Aber es gab ja damals auch Statuen und Bilder der römischen und griechischen
Götter. Das waren dann auch stets ansehnliche Gestalten, die ihrem Charakter
entsprechende Züge aufwiesen. Und wir haben unzählige Bilder der Apostel, auch
in unserer Kirche. Es ist also nicht ganz abwegig.
Nur wäre ein solches Bild von Jesus, ob nun als Statue oder als Gemälde, nicht
eindeutig zu unterscheiden von den Bildern anderer Gestalten. Das einzige Merkmal,
das für Jesus einzigartig ist, ist das Kreuz.
Die Kreuzigung war zwar damals eine durchaus übliche und häufig auch durchgeführte
Bestrafung – man ließ die Gekreuzigten auch gerne mehrere Tage lang hängen, damit
sie der Bevölkerung Furcht einflößten vor der römischen Besatzungsmacht.
Aber Jesus und das Kreuz gehören zusammen. Der Tod am Kreuz ist, das kann man
schon sagen, der Höhepunkt seines Lebens. Hier hat er das vollbracht, wovon unser
Predigttext redet: Er hat uns versöhnt mit Gott.
Es ist bemerkenswert, wie Paulus diesen Satz formuliert: „Gott war in Christus
und versöhnte die Welt mit sich selber.“ Gott handelt in Christus, nicht durch
ihn. Gott ist Christus. Oder: Christus ist Gott.
Für Andersgläubige ist es immer wieder eine Anfechtung, wenn wir von Jesus als
Gottes Sohn reden, und es kann auch für uns zu einem Problem werden, wenn wir
meinen, Jesus von Gott getrennt sehen zu müssen.
Denn Jesus ist nicht losgelöst von Gott; er ist Gott. Und so ist es auch kein
brutales Opfer des eigenen Sohnes, das uns mit Gott versöhnt, sondern das
Selbstopfer Gottes. Gott opfert sich, er gibt sich hin, um endgültig Schluss
zu machen mit dem, was uns von ihm trennt.
Es ist die unermessliche Liebe Gottes zu uns Menschen, die ihn dazu treibt,
um uns die Augen zu öffnen für seinen Weg der Liebe, der Vergebung, der
Hingabe.
Das ist es, was wir am Kreuz erkennen können, und das ist es, warum das Kreuz
zum Symbol christlichen Glaubens geworden ist.
Nun ist das nicht wirklich ein Schlusspunkt. Denn das Leben geht weiter. Die
Menschheit geht weiter. Es ist fast 2000 Jahre her, seit Jesus gekreuzigt wurde.
Es ist fast 2000 Jahre her, seit Paulus nicht nur der christlichen Gemeinde
zugerufen hat: Lasst euch versöhnen mit Gott!
Aber was hat sich seither getan? Die Geschichte der Christenheit und die
Geschichte der Menschheit hat sich nicht wirklich geändert.
Es gab vorher grausame Kriege, und es gab sie hinterher. Für manche dieser
Kriege ist der christliche Glaube auch noch die Motivation gewesen.
Es gab vorher und auch hinterher Menschen, die Macht an sich zu reißen versuchen
und sie dann häufig und gerne auch ausnutzen, ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen
zu nehmen.
Es gab vorher und auch hinterher Hungersnöte und Naturkatastrophen, die unzählige
Menschen das Leben kosteten.
Lasst euch versöhnen mit Gott! Ruft uns Paulus zu. Kann es sein, dass es mit der
Versöhnung doch nicht geklappt hat? Aber woran liegt das?
An Gott kann es eigentlich nicht liegen. Denn er hat seinen Teil getan. Er ist ganz
Mensch geworden, um uns gleich zu sein, und hat sich den Menschen ausgeliefert.
Die Tatsache, dass uns Paulus dazu aufrufen muss, dass wir uns mit Gott versöhnen
lassen, deutet darauf hin, dass jetzt wir an der Reihe sind.
Lasst euch versöhnen, das bedeutet nur: annehmen oder ablehnen. Mehr ist von unserer
Seite nicht zu tun. Gott bietet sich uns an. Er fordert nicht, er gibt.
Und was er gibt, das erkennen wir im Grunde schon in der Schöpfungsgeschichte: Gott
schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er sie. Und siehe, es war
sehr gut.
Der Mensch ist dazu geschaffen, ein Bild Gottes zu sein. Gott versöhnt uns dazu, wieder
dieses Bild zu sein. Was für ein Bild das ist, sehen wir wiederum am Kreuz selbst: es
ist die Liebe schlechthin, die Liebe, die bereit ist, das Leben aufzugeben um der anderen
willen.
Es ist Liebe, die nicht diskriminiert, die keinen Unterschied macht zwischen Sünder
und Gerechtem, ja, die sich gerade dem Sünder zuwendet. Denn es wird Freude sein im
Himmel über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über 99 Gerechte, die der Buße nicht
bedürfen. (Lk 15, 7).
Das Kreuz erinnert uns an diese Liebe, und sie erinnert uns an das, wozu Gott uns
versöhnen will.
Amen
Liedvorschläge zur Predigt:
O Jesu Christ, Sohn eingeborn (EG 179, 3-4)
Allein zu dir, Herr Jesu Christ (EG 232)
Ich habe nun den Grund gefunden (EG 354)
Mir ist Erbarmung widerfahren (EG 355)
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Predigtvorschläge zu Reihe III - Jes 52, 13-15; 53, 1-12
Liebe Gemeinde!
Der Kirchenraum ist bereits umgestaltet, alles ist fertig für die Aufführung der
Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, eines einzigartigen musikalischen Werkes,
am heutigen Abend. Es fällt nicht leicht, diese Veränderungen so hinzunehmen. Jedoch
hat das, was heute abend geschieht, einen für uns heute angenehmen Nebeneffekt.
Sicher haben Sie es bemerkt, dass sich nicht nur die Anordnung der Stühle verändert hat.
In den Fensternischen sehen Sie Skulpturen, Vorboten auf das, was uns am Ostermontag und
in der folgenden Zeit erwartet, denn sie gehören zu der Ausstellung „Sakrale Kunst, die
am Ostermontag nach dem Gottesdienst eröffnet wird. Die Skulpturen laden uns schon jetzt
zum innehalten ein.
Sie sind platziert zwischen den Epitaphen, die vom Leben und Sterben verschiedener
Persönlichkeiten der vergangenen Jahrhunderte berichten, und regen uns an, selbst
über Leben und Sterben nachzusinnen. In Gips oder Bronze scheinbar erstarrt, wirken
sie doch lebendig und stellen den Tod in Frage, der uns heute so nahe kommt an diesem
besonderen Tag im Kirchenjahr.
Außer den Skulpturen können Sie im hinteren Bereich der Kirche Werke des Liebenburger
Künstlers Gerd Winner sehen: sie stellen Stationen des Kreuzweges dar, der für den
Künstler zu einem zentralen Thema seines Lebenswerkes geworden ist.
Als ich gestern mit dem Künstler sprach, sagte er mir, er würde eine solche Ausstellung
nicht machen, wenn es nicht in diesem kirchlichen Rahmen geschehen könnte.
Es ging ihm darum, den Menschen auf seine Weise zu helfen, Gott zu begegnen, und das ist
etwas, was nach seiner Ansicht am ehesten in einem Kirchenraum wie diesem geschehen kann.
Ich fand diese Äußerung bemerkenswert und bin dankbar, dass wir die Bilder heute hier haben.
So ist es möglich, nach dem Gottesdienst noch etwas zu verweilen und Stationen des Kreuzweges
Jesu zu betrachten.
Unser Predigttext nun hat etwas mit diesen Dingen zu tun. Es geht darum, wie wir Gott und
sein Handeln wahrnehmen. Dazu gehört die Umgebung, in der wir uns befinden, aber auch unsere
Gewohnheiten, und unser Gefühl, dass etwas nicht so ist, wie es nach unserer Meinung sein
sollte. In der Regel beurteilen wir solche Dinge dann als falsch, aber ist es das wirklich?
Doch bevor wir uns dem Predigttext weiter nähern, will ich auf ein Problem hinweisen,
das sich immer stellt, wenn es um Texte aus den Büchern des ersten Bundes geht, und
besonders um die Bücher der Propheten. Sie schrieben damals nicht für uns Christen,
sondern für das Volk Israel, das Gottesvolk. Die Auslegungsgeschichte dieser Texte
zeigt dann, wie Christen sie für sich vereinnahmten, ohne die besonderen Umstände der
damaligen Zeit zu berücksichten.
Dürfen wir das?
Mir hat ein Text vom ungarischen Schriftsteller Imre Kertész geholfen, diese Frage
zu beantworten. Er schreibt: „Was sollen wir mit dem Vorwurf anfangen, die Juden
hätten sich nicht gegen ihre Deportation nach Auschwitz gewehrt? Auch Christus hat
sich weder gegen seine Geißelung noch gegen seine Kreuzigung gewehrt. Es musste
geschehen, und weil es geschehen ist, vergeht es nicht. In diesem Sinne glaube
ich, dass weder das Kreuz noch Auschwitz vergänglich sind.“
Kertész stellt eine Verbindung her zwischen dem Schicksal des jüdischen Volkes und
dem Gekreuzigten, die nicht darin besteht, dass Jesus selbst als Jude geboren wurde
und starb, sondern darin, dass Auschwitz und Kreuz Ereignisse sind, die nicht
verhindert werden konnten.
Unser Predigttext stellt diese Verbindung ebenfalls her und beleuchtet sie noch von
einer anderen Seite. Der Herr „wollte ihn zerschlagen“, damit „des Herrn Plan“
gelingt.
Jesaja redet vom Gottesknecht, der die Schuld der Menschheit auf sich nimmt, der
leidet, weil es nötig ist, damit die Schuld vergeben werden kann.
Die Schuld der Menschen besteht darin, dass sie ihre eigene Schuld auf diesen
Gottesknecht abwälzten in dem Glauben, dass es ihm so ergehen müsse. Sie glaubten,
dass er nur deswegen leidet, weil er selbst in Gottes Augen schuldig sei, aber
in Wahrheit waren es ihre eigenen Maßstäbe, die ihn schuldig machten.
Das hat Jesus erfahren, indem ihm vorgeworfen wurde, er sei ein Gotteslästerer.
Und das hat das jüdische Volk im Holocaust erfahren, indem ihm vorgeworfen wurde,
es sei schuld an der Not des deutschen Volkes.
Beide Male unterlagen die Ankläger einem Irrtum, weil sie selbst geschaffene
Maßstäbe ansetzten. Sie stellten sich an Gottes Statt und meinten, dies auch
tun zu dürfen.
Gott aber ließ es zu, weil geschah, was in diesen Worten Jesajas zum Ausdruck
gebracht wird:
„Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.“ Jesus
hätte sich ja wehren können: „Meinst du, ich könnte meinen Vater nicht bitten,
dass er mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schickte?“ (Mt 26, 53) Aber
er tat es nicht, denn: „Wie würde dann aber die Schrift erfüllt, dass es so
geschehen muss?“ (Mt 26, 54)
Es ist so eigenartig, so schwer zu verstehen. Ich erinnere mich an das Gespräch
mit einem Mann, der den zweiten Weltkrieg und die Greuel an den Juden miterlebt
hatte, der mir sagte: nach all dem kann ich nicht mehr glauben, dass es einen
Gott gibt.
Wie soll man das auch glauben können, solange man sich Gott als eine Macht vorstellt,
deren erklärtes Ziel es ist, dass alle Menschen in Frieden und Gerechtigkeit
miteinander leben? Von der man erwartet, dass sie auch selbst für die Umsetzung
dieses Zieles sorgt?
Aber das ist nicht unser Gott. Natürlich will er, dass wir Menschen in Frieden und
Gerechtigkeit miteinander leben, nicht nur in unmittelbarer Umgebung, nicht nur
Deutsche in Deutschland, sondern die Menschen in der ganzen Welt. Aber damit das
so sein kann, hat er uns schon alles mit gegeben, was wir dazu brauchen.
Nun könnte uns Gott ja ganz uns selbst überlassen, damit wir unsere Möglichkeiten
ausschöpfen und das Ziel endlich auch in die Tat umsetzen. Aber es scheint, dass
die Menschheit dazu nicht in der Lage ist. Auch die anderen Eigenschaften sind da:
Selbstsucht, Machtgier usw., und sie verlangen zunächst einmal nach Gerechtigkeit
und Freiheit für uns selbst, und nicht für die anderen.
So kommen Gesetze zustande wie zum Beispiel das zur Protokollierung der
Datenverbindungen. So kommt es zu minimalen Rentenerhöhungen, weil man den
Konzernen, die die Wirtschaft unseres Landes bestimmen, keine größere
Gewinnschmälerung zumuten will. So kommt es immer wieder zu Abgrenzungen
gegenüber anderen, indem wir uns selbst in die einzig richtige Position
rücken, und die anderen in die falsche.
Gott sieht das natürlich, er weiß, wie wenig Freiheit und Gerechtigkeit der
anderen bedeuten, und er hat es auch damals gesehen.
Da hat er uns befreit von unserer Schuld, indem er sie auf Jesus Christus lud.
Er hat uns die Möglichkeit zum Neuanfang gegeben, nicht nur damals, auch heute.
Immer wieder werden wir dazu eingeladen, unseren Blick von uns selbst zu den
anderen zu wenden, die uns fremd sind und Angst machen, weil wir um unsere
Freiheit und um unser Recht fürchten.
Aber Freiheit ist nichts wert, wenn wir sie dazu gebrauchen, um sie anderen zu
nehmen.
Darum starb Jesus Christus am Kreuz, damit das nicht mehr so sein muss. Sein Tod
macht uns frei von dem Zwang, uns selbst schützen zu müssen. Denn er ist unser
Schutz und unser Friede.
Amen
Liedvorschläge zur Predigt:
Wir danken dir, Herr Jesu Christ (EG 79)
O Haupt voll Blut und Wunden (EG 85, 1.2.9-10)
Jesu, meines Lebens Leben (EG 86)
Du großer Schmerzensmann (EG 87)
Jesu, deine Passion (EG 88)
Ich grüße dich am Kreuzesstamm (EG 90)
Agnus Dei (EG 190, versch. Varianten)
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Predigtvorschläge zu Reihe IV - Lk 23, 32-49
Liebe Gemeinde!
Begeben wir uns heute nach Golgatha.
Lassen wir dabei einmal die eindrucksvollen Darstellungen der Kreuzigung hier in
unserer Hauptkirche beiseite. Denn das sind nur Ausschnitte, teilweise auch mit
einer eigenen Interpretation des Geschehens, die nicht unbedingt der des Evangelisten
Lukas entspricht. Aber ihm, seiner Darstellung, die wir eben gehört haben, wollen wir
heute nachgehen und erfahren, was er uns zu sagen hat.
Vielleicht schließen Sie dazu die Augen und stellen sich vor, selbst dort zu sein in
der Szene, wie sie uns der Evangelist Lukas beschreibt.
Zunächst einmal ist da ein Hügel. Golgatha. Schädelstätte. Manche vermuten, der Name
sei dadurch entstanden, dass dort die Schädel in Mengen herumgelegen hätten.
Schließlich wurden hier ja die Todesurteile vollstreckt – vor den Toren der Stadt.
Aber das ist es nicht. Der Hügel hat seinen Namen von seiner Form her bekommen. Er
wölbt sich so wie ein großer Schädel. Man muss also nicht aufpassen, dass man vielleicht
auf einen Schädel tritt, wenn man diesen Hügel besteigt. Denn die Menschen begruben
schon ihre Toten, und taten das nicht auf diesem Hügel.
Das Gerüst, an dem die Verurteilten gekreuzigt werden, steht dort schon auf dem Gipfel
des Hügels. Einzig die Querbalken müssen sie selbst tragen.
Wir gehen mit der Menschenmenge, die hinter den Verurteilten mit Rufen und Gröhlen
hergeht. Es ist die grausame Neugier, die sie zu dem noch grausameren Schauspiel zieht.
Auch wir sind neugierig und lassen die Neugier gewähren. Was ist schlimmer: zuzusehen
oder wegzuschauen? Man muss doch wenigstens berichten können, was da geschehen ist.
Und es ist immer gut, sagen zu können: ich bin dabei gewesen.
Jesu Hände werden an den Querbalken genagelt. Das gleiche geschieht mit den beiden
Übeltätern, die mit ihm gekreuzigt werden. Ihre Kleider werden ihnen von den Leibern
gerissen. Dann zieht man die Körper an den Querbalken hoch und fixiert sie an dem
Gerüst, Jesus in der Mitte.
Auch die Füße werden festgenagelt. Der Nagel wird nicht durch die Hand- und Fußflächen
getrieben, wie wir es in den meisten Darstellungen sehen, sondern durch die Hand- und
Fußwurzelknochen. Nur so ist gewährleistet, dass der Körper am Kreuz hängen bleibt.
Nun haben die Soldaten ihre Arbeit getan. Was bleibt, ist aufzupassen, dass sich die
neugierigen Menschen nicht an den Gekreuzigten auslassen. So bleiben sie. Die Kleider
teilen sie unter sich, das war üblich. Der Sieger bekommt immer eine Beute – das Hab
und Gut des Besiegten. Die Präsenz der Soldaten hält die Menschen, die sich versammelt
haben, in gebührender Entfernung.
Da ertönt die Stimme Jesu: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.“
Wem gelten diese Worte?
Denen, die ihn gerade gekreuzigt haben?
Denen, die alles daran gesetzt hatten, dass er verurteilt würde?
Mir? Ich stehe ja auch dabei und schaue zu. Ist mein Zuschauen schon Sünde? Oder ist
nicht doch der neben mir gemeint, der da seine derben Späße macht und den Gekreuzigten
verhöhnt?
Da kommen ein paar von den Oberen, wohl Hohepriester und Schriftgelehrte, Menschen,
die viel von sich halten, die Verantwortung tragen. Sie kennen sich aus. Ehrfürchtig
machen die Menschen Platz, damit sie unbehelligt herantreten können. Die Oberen wissen,
worum es geht. Und sie wissen, wie sie Jesus vor den Menschen entlarven können:
„Er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes.“ so rufen sie.
Es ist kaum zu glauben, wie unverfroren diese heiligen Männer Gott verspotten. Sie rechnen
nicht im mindesten damit, dass Gott in dieser Stunde handeln könne. Ja, sie rechnen
überhaupt nicht damit, dass Gott handelt. Alles, was sie bis dahin vom lebendigen Gott
verkündigt hatten, wird durch diese wenigen Worte schon unglaubwürdig, denn hier wird
offenbar, dass sie selbst nicht daran glauben. Gott wird nicht helfen. Jesus wird sich
nicht helfen. Seht ihn euch an! Da ist er: festgenagelt, seiner Freiheit beraubt! Der
Mensch hat gesiegt!
So sehen die Oberen es. So sehen es viele Menschen, auch heute, wenn Dinge geschehen,
die sich nicht ändern lassen und die sich auch nicht ändern. Gott wird nicht kommen. Es
wird sich nichts ändern. Insofern sind sie wahre Propheten.
Aber sie sind in Wahrheit nur Propheten ihres eigenen Unvermögens. Sie reden nicht von
Gott, sondern von sich selbst. Denn sie sehen nur den Menschen.
Doch währenddessen handelt Gott. Wir können es noch nicht sehen. Wir sehen nur den
Sterbenden am Kreuz. Wir hören den Spott der Oberen und sehen dann auch, wie die
Soldaten ihm mit Essig das Sterben noch etwas versauern wollen. Auch sie rufen Jesus
zu:
„Bist du der König der Juden, so hilf dir selber!“
Auch sie fürchten nichts. Sind sie nicht Römer? Die Römer verehren eine ganze Götterwelt,
aber sie wissen sehr wohl, dass sie von denen nichts zu fürchten haben. Nur vom Kaiser,
den sie ebenfalls als Gott verehren. Aber in dessen Auftrag geschieht dies alles ja.
Die Soldaten gehören zur Weltmacht, die alle bekannten Völker unterworfen hat. Die Welt
rund um das Mittelmeer steht unter ihrer Herrschaft. Wer wagt es, sich gegen sie
aufzulehnen? Der jüdische König ist ihr Vasall, und hier gibt es nun noch einen,
der sich als König der Juden bezeichnet. So sagt es ja auch die Schrift über seinem
Haupt.
Also, soll der König doch sein Heer zusammentrommeln und es versuchen, die Römische
Weltmacht herauszufordern.
Nichts wird geschehen – sie wissen es.
Denn sie verstehen ebenso wie die Oberen nichts vom Handeln Gottes.
Wir sehen die beiden Übeltäter zu seiner Linken und Rechten. Der eine wird vom Spott
angesteckt. Vielleicht erhofft er sich ja tatsächlich Hilfe für sich selbst, vermutlich
aber hat er längst resigniert. Es bleibt ihm ja nur der Tod.
„Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns!“
Er stößt ins gleiche Horn wie die Römer und die Oberen. Ruf dein Heer zusammen,
befreie uns, nachdem du dich befreit hast. Wenigstens für einen Moment könnten sie
wohl frei sein, solange, bis die riesige Streitmacht der Römer die Stadt Jerusalem
dem Erdboden gleich gemacht hat.
Auch er versteht nichts vom Handeln Gottes.
Der andere aber warnt: „Fürchtest du dich nicht vor Gott?“
Ja, wer fürchtet sich eigentlich noch vor Gott? Längst haben wir uns mit dem lieben
Gott abgefunden, der alles irgendwie gut macht, der selbst dem übelsten Übeltäter
noch vergibt, ganz ohne irgendwelchen Klimbim.
Wie oft bin ich darauf angesprochen worden, den Spruch „Dienet dem Herrn mit Furcht
und freut Euch mit Zittern“ (Ps 2, 11) über dem Durchgang zur Kapelle in der Trinitatiskirche
zu entfernen. Und jedesmal antworte ich, dass es wichtig ist, daran zu erinnern,
Gott die Ehre zu geben, ihn ernst zu nehmen.
Wir haben vergessen, dass Gott gerecht ist, auch jetzt noch, nachdem Jesus gekreuzigt
wurde. Gewiss, er lässt sich nicht als Keule missbrauchen, mit der man anderen Angst
macht; aber wer das Leben anderer missachtet und nichts anderes sieht als seinen
eigenen Vorteil, der sollte besser Gott fürchten.
„Dieser aber hat nichts Unrechtes getan.“, sagt der andere Übeltäter. Woher er das
weiß? Das wird wohl ein Rätsel bleiben. Vielleicht haben auch Verbrecher damals von
Jesus gehört. Dieser auf jeden Fall. Denn er bittet: „Gedenke an mich, wenn du in
dein Reich kommst.“
Der Tod ist nah. Da wächst die Gottesfurcht meistens wieder. Und so sucht er sich
noch einen Fürsprecher. Genau den richtigen. Ob es nur eine Ahnung ist oder ob er
tatsächlich weiß, wer da neben ihm am Kreuz hängt, das lässt sich nicht feststellen.
Vielleicht klammert er sich nur an den letzten Strohhalm. Auf jeden Fall ist klar:
er fürchtet Gott.
Und das nicht umsonst.
Wir sehen, wie sich Jesus ihm zuwendet und spricht: „Wahrlich, ich sage dir: Heute
wirst du mit mir im Paradies sein.“
Da ist der liebe Gott. Es gibt keine billige Gnade. Aber es gibt Gnade. Selbst dann,
wenn das letzte Stündlein geschlagen hat. Wer um Vergebung bittet und dies aufrichtig
tut, darf auch mit Vergebung rechnen.
Es ist Mittag, die Sonne steht am Zenit, ihre Strahlen brennen auf unserer Haut. Ein
leichter Wind weht über den Hügel, aber er genügt kaum zur Abkühlung. Doch da wird es
plötzlich immer dunkler. Drei Stunden hält diese Finsternis an. Das ist keine
Sonnenfinsternis mehr. Das ist beängstigend.
Um drei Uhr am Nachmittag, zur neunten Stunde, ruft Jesus mit lauter Stimme: „Vater,
ich befehle meinen Geist in deine Hände!“
Er zitiert ein Psalmwort (Ps 31, 6). Den meisten Menschen, die dort versammelt waren,
dürfte es vertraut gewesen sein. Man kann es ihnen auch ansehen. Plötzlich wird es
still. Der Tod ist da. Ein frommer Mensch ist gestorben.
Plötzlich wird aus der grausamen Neugier eine tiefe Betroffenheit. Es geht nicht mehr
darum, dabei gewesen zu sein. Plötzlich spüren sie: das geht mich etwas an. Dieser Mensch
war doch etwas Besonderes. Hier hat Gott seine Hand im Spiel.
Viele schlagen sich an ihre Brust – ein Zeichen der Reue. Wie schnell sich das Herz
eines Menschen doch wandeln kann. Vom „Hosianna“ zum „Kreuzige“, vom Spott zur Reue –
man hat das Gefühl, als ob sich dieser stete Wechsel unmittelbar und grundlos vollziehe.
Aber wenn wir uns die Menschen näher anschauen, dann erkennen wir etwas anderes. Es ist
die Erwartung, die sie in sich tragen, die sie zu diesen Schwankungen veranlasst.
Zuerst erwarten sie von Jesus Großes. Er soll Israel aus den Händen der römischen
Besatzungsmacht befreien. Diese Erwartung wird bitter enttäuscht. So ist das nun mal,
wenn man selbst die Pläne zu machen versucht und sie nicht aus Gottes Hand erwartet.
Dennoch bleibt die Erwartung. Sie ist Jahrhunderte alt, tief verankert in den Herzen
der Menschen. Die Enttäuschung leitet sie an zum Spott. Was haben sie noch zu erwarten?
Doch dann sehen sie:
Der Gekreuzigte bittet um Vergebung für die, die ihm solches Leid antun - und die
meisten wissen ja auch – oder sie ahnen es zumindest – , dass er unschuldig verurteilt
wurde.
Der Gekreuzigte vergibt dem Verbrecher, der Reue zeigt und um Vergebung bittet.
Und er stirbt ganz so, wie man es von einem gottesfürchtigen Menschen erwartet – mit
einem Gebet auf den Lippen.
Die Erwartung eines Messias, der die Römer ein für allemal aus dem Land treibt, ist
zwar enttäuscht. Aber hier dringt langsam etwas anderes an ihre Herzen: es ist die
Erkenntnis, dass Gott in diesem Menschen wirkt.
Sie erkennen ihre Schuld, dass sie ihn zu Unrecht verhöhnt und verspottet hatten –
und bitten, indem sie sich auf ihre Brust schlagen, um Vergebung.
Doch dann: sie gehen. Sie kehren um, heißt es, aber es ist damit nicht die Umkehr
gemeint, die wir auch gerne als „Buße“ bezeichnen. Vielmehr gehen sie zurück in
ihre Häuser, beschämt vielleicht, aber man kann sich denken, wie lange es dauern
wird, bis der Alltag sie wieder eingeholt hat und die Erinnerung an das Geschehene
wieder verblasst.
Aber manch einer wird unter ihnen sein, der später dann doch erkennt: das alles
geschah um meinetwillen, und sich dann der Gemeinde Jesu zuwenden.
Es ist erstaunlich, dass offenbar auch der römische Hauptmann, den wir da an der
Seite stehen sehen, das mitbekommt und Gott preist mit dem Bekenntnis: „Fürwahr,
dieser ist ein frommer Mensch gewesen.“ Man könnte das Wort, das Luther mit „fromm“
übersetzt hat, auch mit „gerecht“ übersetzen. Also: Fürwahr, dieser ist ein gerechter
Mensch gewesen. Wenn schon nicht gerecht vor den Menschen, so doch gerecht vor den
Augen Gottes.
Der Hauptmann erkennt, dass Jesu zu Unrecht den Tod erleidet, und ist der erste,
der dies auch mit Worten bekennt.
Wir schauen uns um. Da erkennen wir am Fuß des Hügels eine Gruppe Menschen, Männer
und Frauen, die einander weinend umarmen. Ihre Herzen sind zerrissen. Es sind die,
die ihm nachgefolgt waren; seine Jüngerinnen und Jünger, Menschen, die ihn lieb
gewonnen hatten über die vergangenen Monate und Jahre, Menschen, die ebenfalls
anderes erwartet hatten.
Jetzt stehen sie fassungslos und weinen. Und während die Schaulustigen sich alle
auf den Weg in ihre Häuser machen, während sie dem Kreuz den Rücken zukehren, bewegt
sich diese Gruppe langsam, fast vorsichtig, auf das Kreuz zu.
Und wir: wir wissen ja, worum es hier geht. Wir stehen jetzt zwischen dem Kreuz und
dieser Gruppe der Jüngerinnen und Jünger. Wir sind betroffen. Auch wir schlagen uns
an unsere Brust und bitten: Vater, vergib uns unsere Schuld.
Denn wir erkennen: dieser ist gestorben, damit wir gerecht sein können, damit
unsere Schuld von uns genommen wird. Und wir müssen auch erkennen, dass wir das
immer wieder vergessen. Dass wir immer wieder meinen, ohne die Liebe Gottes leben
zu können.
Heute stehen wir unter dem Kreuz, und es wird uns schmerzlich bewusst: dort ist
die Liebe Gottes, ans Kreuz genagelt, auch um unseretwillen.
Wir haben die Wahl. Wem schließen wir uns nun an? Gehen wir mit den anderen
Schaulustigen nach Hause und vergessen in wenigen Stunden, was sich hier ereignet
hat? Oder gesellen wir uns zu seinen Jüngerinnen und Jüngern? Weinen wir mit ihnen
und tun den scheinbar letzten Dienst an dem Verstorbenen?
Oder stellen wir uns an die Seite des Hauptmanns und stimmen ein in sein Bekenntnis?
Zwei Tage später wird Jesus mit zweien von den Jüngern nach Emmaus gehen – so
berichtet es uns der Evangelist Lukas. Diese Jünger hatten den Weg eingeschlagen,
den gerade eben die Menschenmenge eingeschlagen hatte: zurück nach Hause. Es ist
der Weg der Resignation. Wieder alles beim Alten.
Doch als Jesus das Brot mit ihnen bricht, erkennen sie: er lebt!
Und das kehrt alles um. Von nun an führt der Weg sie weiter – nicht zurück, sondern
vorwärts, Gott entgegen.
Amen
Liedvorschläge zur Predigt:
O Welt, sieh hier dein Leben (EG 84)
O Haupt voll Blut und Wunden (EG 85)
Jesu, meines Lebens Leben (EG 86)
Ich grüße dich am Kreuzesstamm (EG 90)
Du schöner Lebensbaum (EG 96)
Liebe, du ans Kreuz für uns erhöhte (EG 415)
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Predigtvorschläge zu Reihe VI - Mt 27, 33-54
Liebe Gemeinde!
»Aber Jesus schrie abermals laut - und verschied.« Jesus ist tot. Je länger ich
darüber nachdenke, desto mehr drängen sich mir Fragen auf. Was bedeutet dieser Tod
eigentlich? Warum muss Jesus sterben? Warum lässt dies heutzutage so viele Menschen
gleichgültig bleiben?
Sicher, es ist kein besonderer Tod, den Jesus da stirbt. Wohl ist es der Tod eines
Verbrechers, aber genau das macht es eher zu einer Alltäglichkeit: denn auf diese
Weise sind damals viele gestorben. Es ist heute vergleichbar mit dem Tod auf dem
elektrischen Stuhl, nur dass damals mehr Menschen durch das Kreuz starben. Sicher,
es ist ein grausamer Tod, aber dieser Tod zeichnet sich nicht durch irgendeine
Besonderheit aus. Es ist durchaus so, dass viele Menschen länger und qualvoller
gestorben sind und auch heute noch sterben. Nein, das macht nicht das Besondere
seines Todes aus.
Alle Evangelien gipfeln in der Erzählung von der Kreuzigung Jesu. Sein Tod ist von
zentraler Bedeutung. Aber warum? Ist nicht das eigentlich wichtige das Osterfest,
die Auferstehung Jesu? Ist nicht Ostern das Fest, das den Grundstein legt für die
christliche Kirche? Sicher, das ist es. Aber wie kämen wir zu Ostern, wenn nicht
durch den Karfreitag, wenn nicht durch das Kreuz?
Jesus war das Passahlamm der ganzen Menschheit, er opferte sich, weil es kein
anderer konnte. Denn niemand ist frei von Sünde. Vielmehr sind wir in unserer
Sünde ja alle gefangen. Wenn wir sterben, dann sterben wir, weil wir es verdient
haben. Der Tod ist der Lohn für unsere Sünde. Wir bemühen uns zwar, die Sünde
zu überwinden, aber können wir es jemals schaffen, z.B. keinen bösen Gedanken
zu hegen? Können wir jemals damit aufhören, den Wunsch zu haben, wie Gott zu
sein, über seine Fähigkeiten und seine Unendlichkeit verfügen zu können? Wohl
kaum. Für einen Moment vielleicht - aber unsere Lebenshaltung ist doch eine
andere. Wir sehnen uns doch immer nach etwas, nach mehr Geld, nach Schmerzlosigkeit,
oder vielleicht auch nach anderen Nachbarn. Wir sind mit unserem Leben doch
nie so richtig, rundum zufrieden. Und genau diese Unzufriedenheit ist es, die
uns immer wieder von Gott trennt. Dietrich Bonhoeffer hat es im Jahre 1943
einmal so formuliert:
»Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen - sei
es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine
sogenannte priesterliche Gestalt!), einen Gerechten oder einen Ungerechten,
einen Kranken oder einen Gesunden ... - dann wirft man sich Gott ganz in die
Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes
in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke,
das ist Glaube, das ist Umkehr und so wird man ein Mensch, ein Christ.«
Der Anspruch Bonhoeffers ist hoch, denn es scheint doch unmöglich, nicht unzufrieden
zu sein mit dem eigenen Zustand. Und darum musste Gott einschreiten, er musste
uns befreien von unserer Sehnsucht, er musste leiden. Ich lese noch einmal Worte
Dietrich Bonhoeffers. Er schreibt:
»Gott hasste den Willen, der sich ihm nicht beugen wollte. Unzählige Male rief
er, mahnte, bat und drohte, bis sein Zorn über uns keine Geduld mehr kannte. Da
holte er aus zum Schlage gegen uns, da schlug er zu und traf. Er traf den einzigen
Unschuldigen auf der ganzen Erde. Es war sein lieber Sohn, unser Herr Jesus Christus.«
Ja, wir werden nicht heilig dadurch, dass wir es werden wollen, sondern dadurch,
dass wir das Leiden Gottes an und in dieser Welt erkennen und uns zu eigen machen,
dadurch, dass wir mit ihm leiden.
Diesen Gedanken kann ich zwar nachvollziehen, aber es tut weh. Es ist nicht
einfach, danach zu leben. Oft vergesse ich es völlig. Und dann stehe ich plötzlich
auch unter dem Kreuz und beginne, Gottes Sohn zu verhöhnen und zu verspotten.
Denn ich lasse ihn zurück. Ich lasse ihn nicht an mich heran. Sein Tod berührt
mich nicht mehr. Ich stehe mit dem Rücken zum Kreuz.
Ich denke, das ist das eigentliche und größte Problem unserer Zeit, dass so
viele Menschen achtlos am Gekreuzigten vorübergehen. Es hat mich vor einem
Jahr und auch dieses Jahr wieder beeindruckt, dass in der Zeitung ausführlich
darauf hingewiesen wurde, dass die Tage ab Gründonnerstag besondere Tage sind
und an diesen Tagen große Festlichkeiten verboten seien. Das habe ich woanders
noch nicht erlebt. Aber es bewegt die Menschen dennoch nicht. Sie lassen sich
nicht von Verboten beeindrucken. Auch die Stadt selbst scheint es mit dem Verbot
nicht ganz ernst zu meinen, wenn sie einem Zirkus erlaubt, am Karfreitag zur
Sterbestunde Jesu die Eröffnungsveranstaltung durchzuführen und am gleichen Tag
dann auch noch ein Eselfohlen zu taufen. Nein, das Kreuz Jesu geht an den Menschen
vorbei - oder besser: die Menschen gehen am Kreuz Jesu vorbei. Sie müssen sich
dem Gekreuzigten schon stellen, wenn sich etwas in unserer Welt ändern soll.
Aber genau da ist der Haken. Ich frage mich oft, ob es diesen Wunsch überhaupt
gibt, die Welt zu ändern, ihr ein neues Gesicht zu geben. Ja, doch, es gibt ihn.
Aber wie wird das neue Gesicht aussehen? Es wird gespickt sein mit hochentwickelter
Technologie. Es wird gekrönt sein von Geschöpfen, die wir der Arbeit der
Gentechnik-Labors zu verdanken haben. Schon heute gibt es ja zahlreiche
Nutzpflanzen, die genetisch »verbessert« wurden, damit die Erträge der Bauern
größer werden. Das neue Gesicht unserer Welt wird kein Leiden mehr kennen,
weil wir dem Leiden entfliehen - Gott bewahre uns davor, dass in unserem Land
ein ähnliches Gesetz erlassen wird wie in den Niederlanden. Das neue Gesicht
der Welt kennt keine Liebe mehr. Wir müssen handeln, bevor es so weit kommt.
»Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.« Dieser letzte, laute Schrei
hat mir zu denken gegeben. Denn wenn ein Gekreuzigter stirbt, so sagen die
Wissenschaftler, dann kann er höchstens noch röcheln. Der Gekreuzigte kann
nicht mehr atmen, darum stirbt er. Da kann es also auch keinen Schrei mehr
geben. Warum schreit Jesus, als er stirbt? Ist es sein Ruf an uns? Will er
uns auf sich aufmerksam machen? Eins ist sicher: er will, dass durch uns sein
Ruf in alle Welt erschallt. Und unser Rufen soll laut sein.
Amen
oder
Liebe Gemeinde!
Es ist eine vertraute Szene, die zugleich traurig und hoffnungsvoll stimmt. Es ist eine
Szene, die wir in den Kirchen in der ganzen Welt fast immer wenigstens teilweise vor
Augen haben: Das Kreuz, die Soldaten, die Spötter. Dann auch häufig in Übereinstimmung
mit dem Bericht des Evangelisten Johannes, wie hier am Hochaltar: mit Maria, Jesu Mutter,
und dem Jünger, den Jesus lieb hatte, unter dem Kreuz stehend.
Anders die Darstellung von Hans Vredemann de Vries, die hier im Altarraum hängt und
Ihnen sicher auch vertraut ist:
Unter dem Kreuz sehen wir links außen Mose und rechts außen Johannes den Täufer als
Vertreter des alten und des neuen Bundes. Direkt unter dem Kreuz kniet Adam als Vertreter
der Menschheit, und sich um das Kreuz windend sehen wir die Schlange, die fast
triumphierend das Symbol menschlicher Anmaßung und Sünde hochhält: den angebissenen
Apfel.
Hier wird die Kreuzesszene bereits gedeutet: die Schlange auf der Seite des alten Bundes,
Adam auf der Seite des neuen Bundes; Verwerfung und Erlösung, so könnte man meinen.
Um das zu unterstreichen, neigt Jesus sein Haupt der Seite des Neuen Bundes zu, er
schaut auf Adam, der seine gefalteten Hände dem Herrn entgegenstreckt im Gebet um
Vergebung der Sünden.
Und doch erstrecken sich die Arme Jesu über beide, stellen gewissermaßen eine Brücke
her zwischen dem Alten und dem Neuen, anstatt eine unüberwindliche Grenze aufzubauen.
Sie gehören also doch zusammen, das Alte ist nicht verworfen, und das Neue ist ja auch
noch nicht vollendet. Die Schlange bleibt, sie sitzt der Menschheit gewissermaßen im
Nacken und versucht, Jesus zu überzeugen, dass es vergebliche Liebesmüh ist.
Hier scheint das „er steige herab vom Kreuz“ aus der Erzählung des Matthäus erkennbar
zu werden, denn was für einen Sinn hat das Kreuz, wo der Mensch doch nach wie vor die
Gottesferne sucht?
Das Bild stellt reformatorische Theologie dar: die Vergebung wird – trotz der
Allgegenwart der Ursünde – durch den Tod Jesu am Kreuz erlangt. Jesu Zuwendung
zu Adam bedeutet im Grunde: für dich. Lass es dir nicht nehmen. Lass dich nicht
von der Sünde ablenken, sondern schaue stets auf mich.
Vielleicht nutzen Sie die Gelegenheit und schauen sich das Bild nach dem Gottesdienst
noch einmal an.
Die Erzählung des Matthäus-Evangeliums berichtet uns nun davon, wie das allzu Menschliche
voller Unverstand dem göttlichen Handeln begegnet: der Weisheit dieser Welt ist und bleibt
das Kreuz eine Torheit.
Dies wird vor allem deutlich an dem einen Satz, den die Menschen unter dem Kreuz über
Jesus sagen: „Ist er der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz. Dann wollen wir
an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat;
denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn.“
Nun könnte man tatsächlich sagen: das ist der alte Bund. Es sind ja jüdische Menschen,
die da unter dem Kreuz stehen und dies sagen. Das sind also die, die abgelöst werden
durch die Kinder des neuen Bundes. Aber so ist es bei weitem nicht.
Eher im Gegenteil: Wenn wir heute Menschen zum Kreuz befragen würden, dann käme es doch
auf das Gleiche hinaus. Wir hören Antworten wie: Jesus sei ein besserer Mensch gewesen,
aber Gottes Sohn? Das sei unvorstellbar. Zumal es ja von der Seite Gottes her keinen
Grund dafür gibt, dass Jesus gekreuzigt wird. Er kann doch Sünden vergeben, ohne ein
Opfer zu fordern.
Die ganze Opfertheologie, die mit dem Kreuz in Verbindung steht und durch den Apostel
Paulus ins Spiel gebracht wurde, sei unzeitgemäß, heißt es da mitunter, und das nicht
nur von Seiten derer, die selten bis gar nicht einen Gottesdienst besuchen, sondern auch
von hochrangigen Theologen. Man wolle einen gnädigen und liebevollen Gott predigen, und
da passe dieses Opfer am Kreuz nun mal nicht hinein.
Können Sie sich christlichen Glauben ohne das Kreuz vorstellen?
Nun haben solche Stimmen auch ganz handfeste Argumente: Im Sinne der Dreieinigkeit wäre
es ja kaum nachzuvollziehen, dass Gottes Sohn am Kreuz stirbt – dann wäre die Welt ja
tatsächlich drei Tage lang im wahrsten Sinne des Wortes gottlos gewesen. Die Mächte der
Finsternis hätten leichtes Spiel gehabt, oder etwa nicht?
Die Frage: Warum steigt er nicht herab vom Kreuz? drängt sich auf und steht im Grunde im
Mittelpunkt des ganzen Geschehens. Der Sohn Gottes kann so etwas doch nicht durchgehen
lassen, er kann den bösen Mächten nicht das Feld überlassen.
Und weil es doch geschieht, sucht man dann nach anderen Wegen, dies zu erklären. Einer
dieser Wege ist schon angesprochen worden und vermutlich auch der populärste: Jesus ist
gar nicht Gottes Sohn gewesen. Denn wenn er es gewesen wäre, dann hätte er vom Kreuz
herabsteigen müssen.
Diesen Weg gehen heute viele Menschen, und er kommt auch denen, die zwar an den Gott Abrahams
glauben, aber Jesus höchstens als einen Propheten anerkennen, entgegen.
Aber ist das schon genug? Und ist das richtig?
Ich denke in dem Zusammenhang gerne an ein Buch von Nikos Katzantzakis, das den Titel
trägt: Die letzte Versuchung Christi. Dieses Buch erzählt von genau diesem Konflikt
und stellt ein Was-Wäre-Wenn-Szenario vor: Was wäre, wenn Jesus vom Kreuz herabgestiegen
wäre, anstatt am Kreuz zu sterben?
Nikos Katzantzakis entfaltet diesen Gedanken.
Jesus steigt herab vom Kreuz – ein Engel sagt ihm, er sei nicht Gottes Sohn und er müsse
nicht am Kreuz sterben. Er könne sein Leben leben, wie er es sich immer gewünscht hatte.
Und so lässt Nikos Katzantzakis Jesus Maria Magdalena heiraten, sie sind glücklich miteinander,
bekommen reichlich Kinder, Jesus wird alt. Im Alter begegnet er Paulus, der auf einem
öffentlichen Platz das Evangelium predigt: 'Jesus ist für unsere Sünden gestorben –
und am dritten Tage auferstanden. Er ist Gottes Sohn! Durch ihn sind wir erlöst! Der Tod
ist besiegt!'
Jesus zieht Paulus zur Seite und warnt ihn, nicht so von ihm zu reden, weil es nicht der
Wahrheit entspräche: 'Ich bin ein Mensch', sagt er. 'Gott' - (so dachte
Jesus) - 'hat mich nicht am Kreuz sterben lassen.'
Paulus erwidert darauf: 'Weißt du was? Mir ist das ganz egal. Sei du ein Mensch, sei
du ein Feigling. Viele Menschen glauben an das, was ich predige, und sie haben dadurch Heil
und Heilung erfahren. Du bist mir völlig egal.'
Jesus ist Mensch – und damit bedeutungslos geworden.
Die Geschichte geht noch weiter: Jesus wird alt, er liegt bereits auf dem Sterbebett, als
einige seiner Jünger, ebenfalls alt geworden, in das Zimmer treten. Draußen hört man
Kriegsgeschrei – es ist die Zeit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer, also das
Jahr 70 nach Christus.
Petrus redet mit ihm – warum hast Du uns im Stich gelassen? Jetzt sind wir hier und kämpfen
deinen Kampf weiter, aber es ist ein vergeblicher. Die Römer sind schon in der Stadt, sie
morden und plündern.
Plötzlich tritt Judas Iskarioth in den Raum und beginnt, Jesus zu beschimpfen: 'Was
machst Du hier? Du hast hier nichts zu suchen. Dein Platz ist am Kreuz!'
Jesus verweist auf den Engel, der ihn die ganze Zeit begleitet hat, und der auch jetzt in
einer Ecke des Zimmers steht. Ein ewig junges Mädchen mit lockigen Haaren. Der Engel habe
ihn doch vom Kreuz herabgeholt. Er habe ihm gesagt, dass er nicht sterben müsse, dass er
nicht der Sohn Gottes sei.
Judas schaut in die Ecke und sagt nur: 'Ein Engel? Schau genau hin.' Und in dem
Moment verwandelt sich der Engel in Satan.
Daraufhin erkennt Jesus, dass dies alles nicht wahr sein kann. Sein ganzes Leben entsprach
nicht dem Willen Gottes. Und dann betet er. Er fleht Gott an: 'Vergib mir! Ich will
dein Sohn sein! Ich will am Kreuz sterben, wie du es von mir verlangst. Ich will den Menschen
das Heil bringen. Lass mich dein Sohn sein!'
Im gleichen Moment findet er sich am Kreuz wieder und kann befreit die Worte sprechen:
„Es ist vollbracht!“
Das Buch wurde von vielen Seiten heftig kritisiert, ebenso der Film, der nach diesem Buch
unter dem gleichen Titel gedreht wurde. Man warf ihm Blasphemie vor, denn Jesus verliebt
und verheiratet – das geht doch gar nicht.
Dabei scheint mir dieses Buch auf geniale Weise die Frage zu reflektieren, wer Jesus
eigentlich ist, und dabei zu dem Schluss zu kommen, dass er tatsächlich und in Wahrheit
Gottes Sohn ist, der zugleich aber zu hundert Prozent Mensch war.
Dieses Menschsein musste er bis zum Tod durchhalten, damit seine Gottheit offenbar werden
konnte.
Das ist das Paradoxe am Kreuz. Die Gottheit Jesu kann nicht dadurch offenbart werden,
dass er vom Kreuz herabsteigt. Im Gegenteil: er würde dann als Mensch entlarvt, als
einer, der das Leben begehrt und den Tod nicht erdulden will. Und das sind zutiefst
menschliche Züge.
Und so kann auch erst nach seinem Tod das Bekenntnis aus dem Munde des Hauptmanns und
derer, die mit ihm Jesus bewachen, erklingen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!
Nun erst können wir mit Jesaja sagen:
„Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.“
Jesus litt und starb für uns, damit wir Frieden hätten.
Aber das erschließt sich eben nicht der Vernunft. Es ist eine Sache des Glaubens. Und
Glauben, das ist nicht etwa etwas für Dummköpfe, die nicht bereit sind, sich den
Erkenntnissen der Wissenschaft zu stellen, sondern er ist etwas für Menschen, die
sich nach Erlösung und Frieden sehnen – und sie in Jesu Leiden und Sterben dann auch finden.
Denn dazu ist Jesus in die Welt gekommen, nicht, dass er sich dienen lasse, sondern dass
er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele. (Mt 20, 28)
Amen
Liedvorschläge zur Predigt:
Christus, der uns selig macht (EG 77)
Jesu Kreuz, Leiden und Pein (EG 78)
Wir danken dir, Herr Jesu Christ (EG 79)
Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen (EG 81)
O Haupt voll Blut und Wunden (EG 85)
Herr, stärke mich, dein Leiden (EG 91)
Jetzt, da die Zeit sich nähert (NB-EG 548)
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Predigtvorschläge zu Reihe M - 3. Mose 16, 20-22 (= Lev 16, 20-22)
Hos 5, 15b - 6, 6
Hebr 9, 15.26b-28
Zu Hebr 9, 15.26b-28:
Liebe Gemeinde!
Das Kreuz - es ist das wichtigste Symbol der Christenheit. In jeder Kirche ist
es zu sehen, in jedem Andachtsraum, in vielen Wohnungen. Viele Menschen tragen
ein Kreuz an einer Kette um den Hals.
Warum ist das Symbol des Kreuzes uns Christen so wichtig geworden?
Kreuzigung - das war damals, zur Zeit Jesu, eine ganz übliche Strafe. Die
Gekreuzigten hingen oft tagelang am Kreuz, auch noch nach ihrem Tod, zur
Abschreckung und zur Sicherung der Macht durch die Römer.
Man wollte deutlich machen, was die zu erwarten haben, die sich in irgend
einer Weise gegen die römische Besatzung auflehnen. Das Kreuz war kein Symbol,
das man sich um den Hals hängte oder in das Haus an die Wand, es war kein
Symbol der Anbetung, sondern im Gegenteil: es war ein Symbol der Angst und
des Schreckens. Niemand, aber wirklich niemand, konnte dem Kreuz etwas Gutes
abgewinnen.
Jesus erlitt die gleiche Strafe wie tausende vor ihm - und tausende nach ihm.
Er litt die gleichen Schmerzen, aber es gibt doch einen Unterschied:
Jesus hat diese Strafe nicht verdient. Das erkennt sogar Pilatus, der nur
zögerlich das Todesurteil spricht; aber er spricht es. Er hat ja die Macht.
Er kann es tun, er kann unschuldige Menschen zum Tod verurteilen. Niemand kann
ihn deswegen belangen.
Jesus stirbt, ohne schuldig zu sein. Aber er wehrt sich auch nicht. Er beteuert
nicht seine Unschuld, fühlt sich auch nicht ungerecht behandelt. Er nimmt die
Strafe auf sich, weil er konsequent den Willen seines himmlischen Vaters
gelebt hat. Er hat sich nicht abbringen lassen von diesem Weg, war aber
zugleich nicht willenlos. Er war keine ferngesteuerte Marionette.
Das zeigt uns sein Gebet am Abend in Gethsemane, wo er sich freiwillig dem
Willen Gottes unterwirft. Er lässt zu, wovor er durchaus Angst hat, weil er
die Schmerzen ahnt, die ihm bevorstehen: "Lass diesen Kelch an mir vorübergehen -
doch nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe."
Jesus liefert sich dem Willen seines himmlischen Vaters aus - er ordnet sein
Wünschen dem Willen des Vaters unter. Wenn er sich ans Kreuz nageln lässt, so
geschieht es, weil er selbst es will - weil sein Wille mit dem Willen des Vaters
eins geworden ist.
Dieser Wille des Vaters ist es nun, der uns unerklärlich erscheint. Wie kann
der liebende, barmherzige Gott, so etwas verlangen? Wie kann er wollen, dass
sein Sohn gekreuzigt wird?
Die Antwort ist unbefriedigend, gerade dann, wenn man nicht bereit ist, sich
einzuordnen in die lange Geschichte Gottes mit der Menschheit. Denn sie kann
nur dann wirklich verstanden werden, wenn man auch diese Geschichte versteht.
Die Antwort lautet - einfach, und doch so schwer verdaulich heutzutage: Gott
wollte ein Opfer.
Dieses von Gott gewollte Opfer - und darauf macht uns der Hebräerbrief aufmerksam -
konnte kein Mensch darbringen. Denn jeder Mensch ist Sünder, auch wenn er sich
noch so sehr bemüht, dem Willen Gottes gemäß zu leben.
Jesus hat es uns gesagt, wie leicht es ist, Schuld auf sich zu laden. Ein böser
Gedanke genügt, ein Begehren - Dinge, die nach außen hin keine Konsequenz haben:
sie belasten die Seele, und wirken sich letztlich dann doch auf die eine oder
andere Art und Weise aus.
Darum, weil wir alle Sünder sind, kann es kein von Menschen dargebrachtes Opfer
geben, das diese Sünde fortschaffen könnte. Es ist selbst schon durch die Sünde
des Opfernden wertlos gemacht.
Also musste Gott einspringen und selbst dieses Opfer darbringen. Nur so konnte
endlich Frieden einkehren zwischen Gott und den Menschen.
Der Weg Jesu ist es, der in in dieses von Gott gewollte, notwendige Opfer mündet.
Er allein, der Sohn Gottes, Mensch geworden, ist es, der Gott versöhnen kann.
Sein Opfer stellt den Frieden her, nach dem wir uns sehnen, und nach dem sich
Gott selbst so lange gesehnt hat.
So stellt Jesu Opfer alles Bisherige auf den Kopf. Während man früher geglaubt
hat, dass der Mensch selbst Wiedergutmachung leisten muss Gott gegenüber, so
ist dies nun nicht mehr nötig. Ein für allemal hat Gott diese Wiedergutmachung
geleistet, am Kreuz, am Symbol der Angst und des Schreckens, das so zu einem
Symbol der Hoffnung und Zuversicht wird.
Doch die Welt versteht es nicht, und so wird das Symbol auch immer wieder benutzt,
um Christen zu verhöhnen: es gibt ein Bild, in eine Mauer eingeritzt, das aus der
frühen Zeit der Christen stammt und einen Menschen mit einem Eselskopf am Kreuz
zeigt. Daneben kniet ein anderer in anbetender Haltung. Darunter steht: Alexamenos
betet seinen Gott an. Dieses Bild findet sich auf dem römischen Hügel Palatin.
Die Welt hat es nicht begriffen und nicht für wahr halten können, dass sich Gott
derart erniedrigt und sogar den Tod erleidet. Was für ein Gott ist das, der all
seine Macht und sogar seine Unsterblichkeit aufgibt? Was gibt es da anzubeten?
Wer solch einen Gott anbetet, ist selbst ein Esel.
Es ist ja auch wahr. Damit werden ja auch wir Christen nicht so richtig fertig,
dass Gott stirbt. Gott kann nicht wirklich sterben. Jahrhundertelang haben sich
Theologen darüber den Kopf zerbrochen, wie man das erklären kann.
Die einzige Erklärung ist die: Gott wurde Mensch, ganz und gar. Er äußert sich
all seiner Gewalt, so heißt es in dem bekannten Weihnachtslied "Lobt Gott, ihr
Christen, alle gleich" von Nikolaus Hermann.
Nur so konnte er auch den Tod erleiden, den Tod, der uns von unserer Schuld erlöst.
Ich muss an ein weiteres simples Bild denken, das ähnlich wie das andere das
Geschehen am Kreuz instrumentalisiert, um Christen zu verhöhnen. Da steht
zunächst an der Wand: "Gott ist tot." Und darunter der Name des Autors dieses
Satzes: Nietzsche. Auf dem nächsten Bild sieht man den gleichen Schriftzug auf
der Wand, aber er hat sich geändert. Das Wort Gott ist durchgestrichen, und
darüber steht "Nietzsche". Und der Name darunter ist ebenfalls durchgestrichen,
und daneben steht: "Gott". So dass nun zu lesen ist: "Nietzsche ist tot. Gott".
Das Kreuz ist eine Herausforderung. Uns, die wir glauben, ist es das Symbol des
Heils geworden, das Symbol der Befreiung. Was anderen Angst macht oder sie auch
einfach nur gleichgültig oder gar höhnisch werden lässt: es schenkt uns Hoffnung
und Zuversicht. Durch das Kreuz wissen wir, dass nichts uns von der Liebe Gottes
trennen kann. Weil das Kreuz die Manifestation der Liebe Gottes ist.
Im Tod begegnet uns Gott und reißt uns aus dem Tod heraus; das Kreuz wird zur
Lebensquelle, weil es das Trennende, den Tod, fortnimmt.
Nun schreibt der Verfasser des Briefes an die Hebräer am Ende seines Abschnittes:
Christus wird ein zweites Mal kommen, aber nicht, um ein zweites Mal die Sünde
weg zu nehmen, sondern um die, die auf ihn warten, mit sich zu führen in das
Reich Gottes.
So sind wir also Wartende. Nun wissen wir aber weder Tag noch Stunde, wann es
geschehen wird. Es kann also kein Warten sein so wie am Bahnhof auf einen Zug,
dessen Ankunftszeit einigermaßen sicher bekannt ist. Wir können daher auch nicht
wartend irgendwo verharren, etwa in einer Kirche, sondern müssen unsere Alltagsgeschäfte
aufnehmen, um unser Leben fristen zu können. Wir müssen weitermachen.
Doch stellen wir uns eine ähnliche Situation kurz vor: Jemand hat sich angekündigt,
dass er zu Besuch kommen würde, ohne dabei eine Zeit zu nennen. Die Person ist uns
bekannt, und ihr Besuch ist uns wichtig. Wir sind bereit, stellen uns vor, wie es
sein wird. Wir warten einige Tage, verschieben Vorhaben, die nicht so wichtig sind,
um sicher zu sein, dass der Besucher uns auch wirklich antrifft. Aber: es geschieht
nichts. Unser Warten ist vergeblich.
Vielleicht begegnen wir der Person später dann wieder einmal auf der Straße, erinnern
sie an ihr Versprechen, und sie bekräftigt noch einmal ihren Wunsch, einen Besuch
abzustatten.
Doch die Person kommt einfach nicht. Wie lange sind wir bereit zu warten? Einen Monat?
Zwei Monate? Irgendwann jedenfalls hat es mit dem Warten ein Ende. Es liegt nichts mehr
bereit für diesen Besucher, man denkt nicht mehr darüber nach, welche Fragen man stellen,
welche Themen man erörtern möchte.
Man nimmt auch nicht Rücksicht, wenn man seine eigenen Vorhaben plant. Ob man nun da ist
oder nicht, es spielt keine Rolle. Insgeheim wünscht man sich vielleicht sogar, dass
dieser Besucher vor verschlossener Tür steht, wenn er sich dann doch mal zu einem Besuch
aufrafft. Sicher ist auch die Enttäuschung groß, aber das vergeht mit der Zeit genauso
wie die Freude auf diese Begegnung.
Jesus hat sein Kommen wie das eines Diebes angekündigt. Dann, wenn man es am wenigsten
erwartet. Und er hat uns zur Wachsamkeit aufgefordert, damit wir nicht überrascht werden
oder gar diese Begegnung verpassen, weil wir nicht da sind.
Ja, er wird kommen, um uns teilhaben zu lassen an seinem Heil. Ist es das nicht wert,
zu warten, auch wenn wir keine Ahnung haben, wann das sein wird? Ist es das nicht wert,
sein Leben so zu gestalten, dass er uns nicht verpasst - und wir ihn nicht?
Das Kreuz - es erinnert uns nun nicht nur an das von Gott vollbrachte Opfer und damit
an seine unermessliche Liebe, sondern auch an diese Zusage, dass er kommen wird, uns
zum Heil.
Amen
Liedvorschläge zur Predigt:
Zu Hebr 9, 15.26b-28:
Also liebt Gott die arge Welt (EG 51)
Also hat Gott die Welt geliebt (EG 28)
Du großer Schmerzensmann (EG 87)
Christi Blut und Gerechtigkeit (EG 350)
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